Licht- und Schattenseiten

       Zyklus

Antithetik

Die Farben des Bösen sind düster und grau,
die Farben des Guten sind taghell und blau.
Das Böse ist eitel und tückisch und dreist,
das Gute ist zart und zerbricht auch so leicht.

Die Lüge vermischt alle Farben geschickt,
und oft unterscheiden die beiden wir nicht.
Mephisto versteht sein Geschäft ja nicht schlecht:
Ergründe und finde, was falsch ist, was recht.

Wege

Breite, schmale und gerade…
Ach so viele Wege gibt´s!
Sonnig. Steinig… Wie die Pfade
und die Stege des Gemüts.

Die Enttäuschung – zaudernd-zagend –
manchen Weg dann widerlegt.
Schließlich mußt du selbst dir sagen:
Wähle nie den leichten Weg!

Mief

Es glimmt die Glut dort in der Tiefe
der abgrundtiefen Seelenkluft.
Sie könnte Feuer dir wohl bieten,
doch fehlt dafür die scharfe Luft.

Vom frischen Wind lass dich umspielen.
Er spendet jedem Lebenslust.
Wie neugeboren wird sich fühlen
das Herz in deiner Menschenbrust.

Kindheit

Sorgenlos die Winde wehen:
Oh, sie haben keine Zeit!
Soll die Mühle still denn stehen,
wo so bunt das Märchenreich?!

Deine Kindheit hat’s gegeben,
doch du dachtest kaum daran:
Erst im späten Innenleben
wird zum Kind der reife Mann.

Mutterliebe

Umwoben von leuchtenden Farben
ist heute noch, Mutter, dein Bild:
Wie oft hast mit Worten, so warmen,
du einst meine Tränen gestillt!..

Und werden die Kinder und Enkel
(Die Jahre, die Jahre – sie fliehn!)
auch eurer, o Mütter, gedenken,
so war nicht umsonst das Bemühn.

Flieder

Was verspricht dir, was singt dir die Liebe,
die dein Frühling so früh dir geschenkt?..
Wenn sie ewig, o ewig nur bliebe
auch so flammend, wie heute sie brennt!..

Es verglühen die Sterne des Flieders,
die noch lilablau flimmern im Wind;
es verklingen die Träume wie Lieder,
die der Liebenden Seligkeit singt.

Dein Antlitz

Kinder, die mühsam dahinvegetieren,
Kinder, vom Elend gefoppt und gehetzt,
Kinder, die hungern und zittern und frieren,
Kinder, von Kugeln und Bomben zerfetzt…

Oh, meine Erde, dein Antlitz beflecken
heute noch vielerorts Schande und Schmach!..
Sollen Atompilze alles bedecken,
alles, was grünte und blühte, danach?!

Frieden

Wieder läuten die Glocken des Frühlings.
Und der Sommer eilt wieder vorbei.
Und der Herbst mit den herben Gefühlen –
er verherrlicht den grünenden Mai.

Und die Stürme des Winters erinnern
uns daran, daß kein Garten erblüht,
daß die Wiesen und Felder verkümmern,
wenn der Frieden auf Erden nicht siegt.

1986

Kurze Märchen

(Zyklus)

Was wen quält

„Iah, iah“,
so klagt der Esel,
„auch ich bin einmal
jung gewesen!..“
Meint die Bremse da:
„Besser ist es,
wenn er laut
schreit und heult.
Schlechter ist es,
wenn er schweigt
und uns dabei
mit seinem
        Quatschenschwanz
erbarmungslos verhaut.“

Traditionen

Aus seiner Schar
              der Star:
Wir sind Wandervögel.
Und wir fliegen,
wenn herbstet,
in der Regel
nach dem Süden.

Der Spatz
      aus seiner Schar:
Wir sind sesshaft.
Und schon deshalb
bleiben wir
auch im kalten
Winter hier.

Dem Usus zuwider

Der Frosch:
Sieben Fliegen
auf einen Streich
ist gewiss nicht leicht.

Der Igel:
Es heißt:
Will man das eine,
muss man das andere
                lassen.

Der Hase (in Ekstase):
Und wenn ich den Stier
bei den Hörnern fasse
und beides erreiche
              zugleich?

Warnung

Der Kreis:
Ich bin kerngesund
und bin kugelrund.
Und bin klug genug.
Und es geht mir gut.
Und…

Das Dreieck:
Sei nur auf der Hut,
runder Schwabbelbauch.
Meine spitzen Winkel
spießen leichthin auf
deinen eitlen Dünkel.
Und du wirst zerplatzen
wie eine Seifenblase
und im Nichts versinken.

Unerwartet

Der Stein:
Ich bin ein Stein
und hart wie Stein.
Die Zähne beißt sich aus
an mir jeder.

Im nächsten Frühling
beim warmen Sonnenschein
guckte grüßend
eine kleine Zeder
aus dem Stein heraus.

Der Streit

Es streiten erregt
der Berg und das Tal
zum wievielten Mal,
wer älter sei von ihnen.

Der Berg:
Siehst du denn nicht,
wie hoch ich schon bin?
Und ich weiß es bestimmt,
daß ich noch höher werde.
Ich bin ja ein Riese!

Das Tal:
Und ich?
Ich bin eine Wiese!
Und meine Gründe grünen
seit ururalter Zeit.

Kommt da ein Wanderer
langsam des Wegs
und hört den Streit:
Meine Lieben, ihr seid
beide so alt wie die Erde.

Größenwahn

Es klirrt der böse Frost:
Ich bin allmächtig!
Ich lasse alles frieren
und – wenn ich will –
sogar versteinern.

Da bringt die Morgenpost
den jungen Frühling,
der sonnenwarm-geschäftig.
Der Frost muß weinend
seinen Dienst quittieren.

Illusionen

Der Grashüpfer prahlt:
Bin schön wie gemalt,
habe Beine und Flügel
und sinnvolle Fühler,
kann hüpfen und fliegen
und fürcht mich vor niemand.

Kommt da ein Spatz:
Ritsch, ratsch!
Dann wird schon geschmatzt.

Freundschaft statt Feindschaft

Unsere Katze Miau:
Ich habe riesige Tatzen
und kann dich zerkratzen.

Unser Hund Wauwau:
Und ich kann dich beißen
und völlig zerreißen.

Dann wurden die beiden
Freunde sogar.
Und sollen es bleiben!

Fast äquivalent

Der Esel zum Schaf:
Wir sind in der Tat
wohl gleicher Natur.

Verschieden sind nur
Statur und Figur.

1987

Wie bunt ist die Welt!

      (Zyklus)

Am Morgen

Es hat jedes Wesen ja seinen Instinkt:
Am Morgen das Leben und Treiben beginnt:
Die kunterbunte Welt ist erwacht
(Nachdem in der Nacht
            sie ein Schläfchen gemacht):
Die Ameisen, Bienchen und Meisen
(und wie sie da alle noch heißen) –
sie gucken verschmitzt
                aus dem traulichen Haus:
Dann geht es ans Werk –
                   bis zur Sonne hinauf!

Selige Stunden

Die Wolken verwundern
sich, freuen sich wieder:
Sein Glück hat gefunden –
nach Tagen, so trüben, –
der blühende Flieder…
Sie lächeln zufrieden:
„O selige Stunden!“
und – ziehen vorüber.

Rentner

Ein Ruheständler bin ich nun
und habe meine Ruh:
Hab alle Hände voll zu tun:
Drauf los! Pack an! Greif zu!

So geht es nun tagaus, tagein:
Ich habe meine Ruh!..
Und könnt‘ es, sagt mir, anders sein?
Ich stöhnte dann: Wozu?!

Muse

Zwar ziemt es sich nicht, wie´s mir scheint,
doch wenn ein Satz da mal ungrammatisch, Kollege,
so kann man – poetisch – noch immer weiterleben.
Verlernst du aber allmählich das Sehen und Hören,
so ist es gewiss schon der Anfang der Leere.
Du hoffst, noch weiter zu schreiben, mein Freund?
Scharfsichtig bleibe, feinhörig, feinfühlig –
und die Muse wie früher es gut mit dir meint.

Zeichen

Das Ausrufezeichen versucht,
den Sinn seines Seins zu ergründen:
Es stehe in jedwedem Buch,
und anderswo sei es zu finden…

So sieh auf den Grund, den du prägst:
Dein Wirken ist wunschtraumverbunden;
Verantwortung selber du trägst,
ob Anklang die Worte gefunden.

Daumendreher

Geschniegelt-gebügelt, ein Schlingel
durch die Straßen des Dorfes stolziert.
Die Empörung erhebt ihre Stimme:
Was hat er im Leben vollführt?!

Rings arbeitet man und errichtet
das Gebäude der Zukunft bereits.
Er faulenzt und tut noch gewichtig
und weiß nicht, was Lebenszweck heißt.

Dein Lied

Wenn Sonnenlicht durch Wolken bricht,
das Herz so wohl sich fühlt…
Verpasse deine Träume nicht,
dein blaues Sternenlied.

Die Zukunft klopft an deine Tür.
Mach auf! Lass sie herein!
Sie wird geschickt gestalten hier
das ewig junge Sein.

Probleme

Probleme, Probleme, Probleme…
Ob sie das Gemüt nicht verwöhnen?
So daß, statt zu handeln, wir stöhnen,
bereit, statt zu geben – zu nehmen.

Probleme uns täglich umschwirren:
Sie scheppern und klappern und klirren.
Wir müssen sie trotzdem entwirren
und dürfen dabei uns nicht irren.

Stimmen

Der Jambus eilt empor zu neuen Höhen
und singt und ringt und hegt die Hoffnung stets,
daß er vermag, das Dunkel zu verwehen,
das noch verfinstert seinen weiten Weg.

Und sonnenhell die Glockenklänge klingen:
Sein Lied die heut noch Schmachtenden erhebt.
Drum greifen ein – rings Millionen Stimmen,
von Sorgenlast und Zuversicht bewegt.

1986

Wie ich einmal Pech hatte

Seid nicht beleidigt und verdenkt mir´s nicht: wenn ich den Saal überschaue, so fällt mir kein einziges Mäfchen auf, das es mit meiner Liese aufnehmen könnte. Wie man sagt: jedem Narren gefällt seine Kappe. Doch beginnen wir von vorne.

Zum erstenmal traf ich sie im Kulruthaus während einer Beratung der Bestarbeiter des Rayons. Als die Debatten folgten, erteilte der Vorsitzende auch mir das Wort, indem er meldete: „Genossen, jetzt spricht der bekannte Traktorist der 1. Abteilung des Thälmann-Sowchoses, Genosse Christian Grünschnabel.“ Da fuhrs´s mir durch alle Glieder. Zwei Blamagen auf einmal: erstens wusste ich nicht recht, was ich überhaupt sagen sollte, zweitens hatte der Vorsitzende, der Teufel weiß wieso, mich zu einem Grünschnabel gemacht.

Ich wurde rot bis über die Ohren und zauderte. Man klatschte aber Beifall, und ich schleppte mich zur Tribüne. Irgendwie riß ich mich doch zusammen und wollte grad beginnen. Da kam mir ein Mädel in der ersten Reihe vor die Augen. Sie warf einen schelmmischen Blick in meine Richtung, wandte sich zu ihrer Nachbarin, und ich hörte ganz deutlich: „Schau mal, wie dem Grünschnabel der Kamm so rot geworden ist, der sagt uns sicher kein Wort heute.“ Da verlor ich gänzlich den Kopf, und das einzige, was ich herausstotterte, war: „Sollt ihr… sollt ihr doch wissen, dass ich kein Grünschnabel bin, ich kann euch meinen Geburtschschein zeigen!“ Na da hatte ich mich vollends blammiert. Unter stürmischem Beifall verließ ich die Tribüne.

Weil ich Präsidiumsmitglied war, mußte ich aber am Präsidiumstisch sitzen. Mein ganzer Körper brannte, als ob man mich ausgepeitscht hätte. Am liebsten wäre ich in eine Ritze geschlüpft.

Zu allem Unglück gab man jetzt ihr das Wort. Ich hörte nur, dass sie Liese Schuster hieß und auch Traktoristin war; viel weiter brachte ich´s nicht. Doch durch das Hirn blitzte der Gedanke: ist das ein blitzsauberes Mädel, die könnte einem ja direkt gefallen!

Da wandte sie sich ans Präsidium: „Und zum sozialistischen Wettbewerb während des Herbststurzes fordere ich den Traktoristen der 1. Abteilung, Genossen Grünschnabel, verzeiht, Grün… Grün…“ „Grünschaden“; verbesserte jetzt der Vorsitzende selbst, – „…fordere ich Genossen Grünschaden heraus!“

Ihre Herausforderung mit solch einer Stichelei – das ging mir denn doch über die Hutschnur! Ich begann stark zu husten und verließ unter diesem Vorwand die Bühne, stand ein Weilchen hinter den Kulissen, mir alle Knochen im Leib verfluchend, während man dem Racker Beifall klatschte, dann schlich ich mich ins Foyer und beglupschte dort sinnlos wohl ´ne halbe Stunde lang alle Bilder an den Wänden. Darauf suchte ich im Büffet Rettung. Aber die Verkäuferin sagte nur höflichst, sie habe nichts stärkeres als Rotwein und Champagner, da entfuhr mir ein“Donnerwetternochmal!“, und ich lief auf die Straße.

Wie ich da nun so verlassen steh´und an einer kalten Zigarette sauge, kommt mein Kamerad, der Wilhelm, und strahlt. „Deiwel noch mal, ich such dich schon eine kleine Ewigkeit! Da ist was los, Christian! Bist du aber ein Glücksvogel! Schau mal her! Weißt du, was das ist? – So was, wie ´ne schriftliche Botschaft, sicher doch eine Einladung oder gar eine Liebeserklärung! Meiner Seele! Und weißt du auch, von wem? Von der Traktoristin der 3. Abteilung, die dich ins Schlepptau nehmen will, von Schusters Lieschen! Beneiden könnt´ ich dich: das ist ja ein Engel!“

„Quatsch nicht, Mensch“, fuhr ich ihn an, „und gib mal her!“ Dabei nahm ich ihm das Briefchen aus der Hand und zerriß es in Fetzen. „Da hast du! Diesen Engel, wenn er sich nicht ins Himmelreich ´naufmacht, kannst du dir einfangen!“

Plötzlich stand mir wieder alles ganz klar vor Augen: erst der schelmische Blick aus der ersten Reihe, darauf ihr hübsches Gesicht, ihre schlanke Figur; und daneben ich, mein lächerlich verdrehter Name, mein Stottern, das Erröten – kurz, ein Jammerbild! Vor Herzensleid schrie ich laut auf: „Ein Esel bin ich, Wilhelm! Immer tu ich das Gegenteil von dem, was ich sollte. Sogar den Brief habe ich zerrissen! Was denn jetzt, Wilhelm? Lach du mir, aber ich hab´ mich wirklich verkracht in sie, da ist mir die ganze Welt, auch mein DT-54, nicht mehr lieb, da ist alles hin!“

Der Junge hatte sich noch nicht recht von seiner Verblüffung erholt, da strömen schon aus dem Klub die Leute auf die Straße. Zwei Mädels steuerten direkt auf uns zu. Und wer denkt ich wohl? Sie! Lieschen und ihre Freundin!

„Jungens, geht ihr nicht mit uns ins Kino? Heute läuft ein schöner Film,“ sagte Lieschen bittend und stieß ihre Gefährtin leicht in die Seite. Ich dacht´ für mich: da muß ich antworten, wie könnte man das nur runder sagen. Aber schon trommelte Wilhelm: „Warum denn nicht, warum denn nicht, liebe Mädchen, das ist ja fabelhaft! Nach getaner Arbeit ist gut ruhen. Und stellt euch nur vor: zwei junge Paare gehen ins Kino, schauen ´nen echten Film an, dann … nun, das Dann wird sich ja finden. Also, danke schön für die Einladung und los!“

Als wir hinkamen, war dort Lärm und Gedränge. Irgendein Mädchen rief ihrer Freundin aufgeregt zu: „Alle Karten ausverkauft. Gehen wir vielleicht zum Tanz?“ Da meinte Lieschen spöttisch: „Die haben wohl Trauerlappen als Kavaliere. Schadet nichts: unsere Burschen haben dafür gesorgt.“

Da lief mir´s heiß über den Rücken, und ich fühlte mich ganz ratlos. Wilhelm flüsterte mir ins Ohr: „Das Briefchen! Was aber weiter?“

Lieschens Freundin schaute auf ihre Uhr und bemerkte: „Es ist Zeit, gehen wir hinein!“ „Tja, Mädels“, wollte ich leichthin sagen, aber die Stimme stockte mir, „wenn, dann geht nur allein, wir haben nämlich keine.“

„Habt keine besorgt, was?“ fuhr Lieschen mich an. „Das hätten wir uns ja denken können“ Wir hätten uns halt an erwachsene Burschen wenden sollen. Ein Grünschnabel ist eben ein Grünschnabel“ Adieu, bleibt schön gesund! Danke für die Gefälligkeit!“ Weg waren sie.

Wilhelm fauchte wütend: „Pechvogel! Hätten wir den Zettel gelesen, so wäre alles in Ordnung. Den ganzen Abend hast du einem verhutzt!“ Und damit ließ er mich stehen.

Wenn ich jetzt mein Liesel an jenen Abend erinnere… ach so, ihr wollt wissen, wieso mein Liesel? Liebe Leute, das ist eine lange Geschichte: da müsste ich davon erzählen, wie verteufelt ich mich ins Zeug legte, nicht nur bei der Arbeit, sondern auch an freien Abenden, wie ich meine tollpatschige Befangenheit loswurde, um das Mädel warb und mich durch keine Neckereien einschüchtern ließ. Kurz und gut, ein Jahr war noch nicht rum, da hieß es nicht mehr: Grünschnabel wetteifert mit Schusters Liese, sondern: Grünschadens sind halt doch die Ersten!

Irren ist menschlich

Der Freitag

   Durch die Straßen jagen Autos und Trolleybusse, über die Gehsteige hasten Menschen. Alle haben es eilig. Alle, bloß Walter nicht. Er steht an der Normaluhr und summt einen Schlager vor sich hin.
   Langsam kriecht der große Zeiger über das Zifferblatt. Fünf Minuten vergehen. Zehn Minuten. Fünfzehn Minuten. Walter summt nicht mehr. Er wird verdrießlich. 
   Punkt sieben wollte sie hier sein. Nun ist es aber schon halb acht.
   Ob sie noch vor dem Spiegel steht und sich schön macht? Sie trägt doch eine so schicke Frisur. Oder sitzt sie gar noch in der Sofaecke und überlegt, welches Kleid sie anziehen soll? Das wäre gemein! Vielleicht ist sie schon unterwegs und guckt rasch mal in einer Konditorei nach, ob ihr Lieblingskonfekt zu haben ist? Sie hat doch Süßigkeiten so gern!
   Der Zeiger rückt weiter. Ist ihr etwas zugestoßen? Walter stockt der Atem, sein Herz klopft bis zum Halse herauf. Ein anderer wäre längst auf und davon, aber Walter… Richtig, ihr habt es erraten: Walter ist über die Ohren verliebt. In wen? In Gerda natürlich. Gerda ist das reinste, das feinste, das schönste, das beste Mädchen. Ihr werdet das verstehen. Auch ihr seid oder ward ja mal jung und verliebt. Na also!
   Zum ersten Mal traf Walter seine Gerda im Vestibül des Opernhauses. Später kam dann die Geschichte mit dem Kuß. Der Kuß hatte Gerda gefallen. Das gab sie erst viel später zu. Es war ein geraubter, ein gestohlener Kuß. Diebstahl bleibt Diebstahl, auch wenn es sich um Küsse handelt. So folgte ihm damals eine Ohrfeige, und sogar eine recht kräftige. Diese Geschichte ist jedoch längst vergeben und vergessen.
   Ob nicht gar Kurt im Spiel ist? Der Bursche ist doch ganz versessen auf Gerda! Keine Spur. So einer ist unser Walter nicht. Wenn dir ein anderer besser gefällt, dann… Walter knirscht mit den Zähnen und ballt die Fäuste.
   Ein Taxi kommt vorbei. Er hebt die Hand:
   „Kosmonautenstraße 77!“
   Da taucht unerwartet Kurt vor ihm auf.
   „Tag!“
   „Tag!“
   „Wie geht’s?“
   Kurt mißt seinen Freund von oben bis unten.
   „Du bist ja heute so geschniegelt und gebügelt! Wohin des Wegs, wenn man fragen darf? Und warum schwänzt du heute? Ihr habt doch freitags zu dieser Zeit Philosophie! Oder -?“
   Walter reißt die Augen auf.
   „Mensch, wenn du für Sonnabend ein Stelldichein verabredet hast, mußt du noch ganze vierundzwanzig Stunden warten. Soll ich dir etwas zu essen bringen?“
   Seine Stimme klingt mitleidig. Walter aber ist aus allen Wolken gefallen.
   „Kurt, wenn das stimmt… wenn das wahr ist…“
   Lassen wir den Vorhang sinken. Wer jung und verliebt war, dem ist gewiß etwas Ähnliches widerfahren. Wer nicht… Nun, für den ist der Freitag eben ein Freitag.

Die Fingerchen

   An der Haltestelle herrscht das übliche Gedränge. Spitzenzeit! Jeder hat es eilig, jeder will rechtzeitig an Ort und Stelle sein. Das ist verständlich. Sogar lobenswert. Aber wozu die Grobheiten? Muß das sein?
   Da kommt die Eins. Auf Biegen oder Brechen, ich muß hinein! Ich bleibe dabei aber höflich. Ein Mann muß sich doch beherrschen können! Zuerst lasse ich alle Frauen durch, alte und junge, dann kommen die Männer dran.
   Die Einst bleibt stehen. Die Tür geht auf. Sie wird im Sturm genommen. Die Mahnungen der Schaffnerin gehen im Lärm unter. Ein baumlanger Lümmel schiebt mit seinen Boxenfäusten alle zur Seite, bahnt sich durch das Gedränge den Weg und nimmt mit einem selbstzufriedenen Grinsen auf dem Sitz der Schaffnerin Platz.
   Ein altes Mütterchen und eine blonde Schöne, die von diesem Zwei-Meter-Untier vom Trittbrett gefegt wurden, landen in meinen Armen. Das Mütterchen schnappt nach Luft und murmelt etwas von Schmach und Schande. Das Mädchen streift mich mit einem vernichtenden Blick. ‚Du bist ja nicht besser als die anderen.‘ sagt dieser Blick. Ich senke die Augen.
   Natürlich kommt jetzt die Vier, darauf die Sieben, dieser folgt die Acht. Ich ärgere mich. Hätte ich dem Mädchen nicht ein paar mitfühlende Worte sagen können? Dann hätte sie verstanden, daß ich anders bin als alle.
   Wo ist sie eigentlich? Ah, dort steht sie, neben der Alten, nestelt an ihrem Haar. Herrgott, ist sie schön! Goldblondes Haar, große blaue Augen, Grübchen in den Wangen und die Figur… Mir stockt der Atem. Wenn sie mich bloß angucken würde! Ein Blick aus diesen Augen würde mich glücklich machen. Aber nein, ich bin Luft für sie.
   Da kommt die Eins. Wieder Gezeter, wieder drängen sich Menschen zum Eingang.
„Verzeihung, dürfte ich Ihnen…“ Nein, sie bemerkt mich nicht. Ich nütze die letzte Möglichkeit: „Zwei Fahrscheine, bitte!“ Ja, Kuchen! Die Blonde hat schon eine Münze aus ihrem Täschchen gefischt und reicht sie der Schaffnerin. Ich drücke den zweiten Fahrschein dem alten Mütterchen in die Hand, und diesmal murmelt ihr zahnloser Mund etwas von Achtung und Ehre-das-Alter.
   „Junger Mann, was ist mit Ihnen?“ fragt die Schaffnerin. „Warum stehen Sie so gottverlassen da? Treten Sie in die Wagenmitte!“
   Mechanisch folgte ich der Aufforderung, mechanisch greife ich mit der linken Hand nach der Rückenlehne des Sitzes neben mir. Und da durchzuckt es mich: Die zarten Fingerchen einer kleinen Hand berühren die meinige. Ich weiß es, ich fühle es: Das ist ihre Hand! Sie hat also doch alles verstanden, hat erkannt, was ich ihr sagen wollte!
   Vorsichtig streichele ich die kleine weiche Hand. Sie läßt es zu. Ich bin trunken vor Freude und Liebe. Ihre Hand – kann es sein? – ihre Hand erwidert meinen Druck!
   Da höre ich die Stimme der Schaffnerin:

   „Haltestelle Bahnhofstraße!“
   Bahnhofstraße? Das ist… hier müßte ich doch aussteigen! Ich zögere nicht länger als eine Sekunde. Mag kommen, was da kommen mag! Verspätet habe ich mich sowieso. Ich werde weiterfahren! Und als ob sie meine Gedanken lesen könne, zuckt die kleine Hand unter meinen Fingern.

   Da… Grundgütiger Himmel! Sie steht am Ausgang, sie steigt aus, die Blonde, deren Hand ich doch in diesem Augenblick liebkosend streichle.
   Ich wende mich um. Auf dem Platz hinter mir sitzt ein sommersprossiger stupsnäsiger Schuljunge und grinst mich blöd an.

                                                              1986(?)

Victoria

VICTORIA!.. gewiß anders konnte es ja auch nicht sein. Denn nicht umsonst hatten ihre Eltern sie auf den Namen Victoria taufen lassen. Wenn die Eltern ihrem Baby den Namen Victoria geben, dann verbinden sie diese Wahl in der Regel mit gewissen Erwartungen und Träumen. Diese Träume gehen zwar nicht immer in Erfüllung, aber manchmal müssen sie eben Wirklichkeit werden. Was wären andernfalls Hoffnung und Glaube!

Sehe ich da vor nicht allzulanger Zeit in einer Zeitung ein Gruppenbild, vor dem Portal einer Hochschule in Wolgograd aufgenommen. Und auf diesem Foto fällt mir eine nicht mehr ganz junge Frau ins Auge – mit Zügen, die mir, wenn auch nicht gerade bekannt, so doch irgendwie vertraut scheinen und mich an eine ferne Zeit erinnern. Wo? Wann? Unter welchen Umständen? In Alma-Ata? In Sarinsk? In Barnaul? Im Ural? Oder gar vor dem Kriege in Balzer an der Wolga? Oder noch woanders?

Und plötzlich muß ich leise auflachen. Unter dem Bild gibt es ja eine Unterschrift! Und ich lese: („V.l.n.r.“ oder auch umgekehrt, denn das weiß ich nicht mehr und muß meine Jugendfreundin tausendmal um Entschuldigung bitten:

Der Zufall wollte es, daß mir diese Zeitung verlorengegangen ist). Und in der Unterschrift  e n t d e c k t e  ich – o Gott, o Gott, o Gott! – den Namen: Victoria Gräf, Kandidat der philologischen Wissenschaften, Dozent. Das ist also Victoria. Victoria Gräf aus Pallassowka, genauer gesagt, aus Neu-Galka. Denn es kann doch nicht zwei Victorias mit demselben Familiennamen Gräf geben, rede ich mir ein. Und die vertrauten Züge, die mehr als Worte bezeugen!

Und warum war sie eigentlich eine Gräf, geht es mir durch den Kopf. Wahrscheinlich ist das eine Verballhornung des Namens Graf. Und wer weiß, ihr ferner Vorfahr väterlicherseits war vielleicht wirklich ein Graf, ein heruntergekommener natürlich, phantasiere ich weiter, der der Einladung Katharinas II. gefolgt war, sein Glück an der Wolga suchen wollte und sich Ende der 60-er Jahre des achtzehnten Jahrhunderts in der Kronkolonie Galka auf der Bergseite niedergelassen hatte, dann aber, nach paar Jahrzehnten, zusammen mit anderen Bauern auf der Suche nach besserem Boden auf die Wiesenseite kam, wo die enttäuschten Umsiedler weit draußen in der Steppe (der ganze Streifen mehr fruchtbaren Bodens in der Nähe des Wolgaufers war schon mit Berufer- und Kronkolonien besiedelt) an dem seichten Flüßchen Torgun die Tochterkolonie Neu-Galka gründeten, möglicherweise schon allein deswegen, weil sie das Wanderleben müde waren. Denn, wie es sich herausstellte, war hier der Boden ärmer und dürrer als dort auf der Bergseite.

Und woher sollten sie gewußt haben, daß der deutsche Naturforscher Peter Simon Pallas, der im Auffrage der Petersburger Akademie in den Jahren 1768-1774 unter anderen auch diese Gegend bereist hatte und in seinen Reiseberichten schrieb, die Steppe am Torgun sei außergewöhnlich trocken und öde, es sei weit und breit nichts außer vertrocknetem Gras und Wermutstauben zu sehen und die ganze Gegend sei so fruchtlos, daß sie sogar für die Viehzucht untauglich sei…

Kam mir da vor etwa zwei Jahren ein Büchlein in die Hand, das, wenn ich mich nicht irre, den Titel „Dort, wo der Torgun fließt“ trug. Torgun? Das muß doch irgendwo in den Wolgasteppen sein. Und ich begann das Büchlein interessiert durchzublettern. Dank der errichteten Bewässerungsanlagen kommt das Wolgawasser bis in den Torgun, und die Felder werden jetzt bewässsert, und rings blühen und gedeihen die Gärten und Fluren. Und zum Vergleich werden auch Worte aus dem Reisebericht von Pallas angeführt. Ein erprobter Kunstgriff. Denn Kontraste wirken auf den Leser überzeugender.

Aber in der Broschüre wird kein einziger Satz, kein einziges Wort davon erwähnt, daß hier länger als ein ganzes Jahrhundert hauptsächlich deutsche Ansiedler, Kolonisten, Rußlanddeutsche und später Sowjetdeutsche gelebt haben. Fleißige und arbeitsame Bauern, die diese öde wasserlose Steppe urbar gemacht hatten, mit ihren rissigen und schwieligen Händen Wasserläufe und Kanäle gruben, das Frühjahrswasser abdämmten, von Geschlecht zu Geschlecht mit ihrem Schweiß und Blut den salzigen Boden düngten, Roggen und Weizen und andere Kulturen anbauten, intensiv Viehwirtschaft trieben und Ende der dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts ihre Dörfer zu einem gewissen wirtschaftlichen und kulturellen Aufschwung gebracht hatten.

Kein einziges Wort. Deutsche? Die konnte es hier nicht gegeben haben. Die dürfte es hier nicht gegeben haben… Konnte es nicht? Durfte es nicht? Heute? In unserer Zeit? ..Na ja, das Büchlein war vielleicht auch ein paar Jahre früher erschienen. Ich weiß es nicht, denn ich habe es nicht, denn ich habe es in den Papierkorb geworfen. Halbe Wahrheit will mir nicht bekommen…

Aber warum sollte Victorias Ahn, muß ich über mich selbst lächeln, unbedingt ein Graf gewesen sein, denn weit nicht alle Grafs in deutschen Landen waren Grafen. Und obendrein: Weder Neu-Galka noch Pallassowka, die damals schon fast ineinanergewachsen waren und nur noch durch den Marktplatz getrennt wurden, waren, wie mir nun einfällt, Victorias Zuhause. Denn sie stammte, glaube ich, aus einem kleinen Dörfchen des Nachbarkantons Gmelinka.

Und da schießt es mir durch den Kopf: Aber warum eigentlich Victoria… Gräf? Das ist doch ihr Mädchenname gewesen. Und seit jener Zeit, als wir uns kannten, sind schon viele Jahre verflossen. Sie könnte eine Kufeld oder eine Bernhardt, oder eine Hoffmann usw. sein. Gründe hätte es dafür reichlich genug gegeben. Aber dann kam der Krieg, der uns von den deutschen Faschisten aufgezwungen worden war, die gewaltsame Aussiedlung der Wolgadeutschen, die uns in Kasachstan, im Altai und in Sibirien zerstreute, die Zeit der Arbeitsarmee, die für uns nicht vier Jahre wie der Krieg, sondern in vielen Fällen doppelt solange gedauert hatte, und bei all dem die Verbannung als Sonderumsiedler, die erst 1956 aufgehoben wurde. Wieviel schwere, dramatische und tragische Schicksale hat das alles mit sich gebracht!..

Victoria, und nicht verheiratet – das kann ich mir einfach nicht vorstellen. Aber, sage ich mir, es gibt ja auch Ausnahmen aus der anerkannten Regel, wo bei der Eheschließung die Braut darauf besteht, ihren Mädchennamen zu behalten. Also muß Victorias Bräutigam entgegenkommend, ritterlich gehandelt haben. Und allem Anschein nach ist ihr Gatte auch Philologe oder Psychologe, oder etwas Ähnliches von Beruf. Denn gleich und gleich gesellt sich gern, heißt es im Volksmund. Die Physik belehrt uns zwar eines anderen – daß sich gleichgeladene Pole einander abstoßen. Aber diese Erscheinung heißt Magnetismus. In unserem Falle geht es zwar auch um Magnetismus, aber um die Anziehungskraft, die zwischen zwei Seelen entstehen und ihrer Stärke nach dem Magnetfeld der Erde gleichkommen kann.

Und glücklich muß Victoria sein, und Kinder und Enkelkinder muß sie haben. Und ihr Tätigkeitsfeld ist nicht minder interessant. Darin habe ich gewisse Erfahrung. Selbstverständlich hat sie nächtelang und jahrelang über ihrer Dissertationsschrift sitzen müssen. Aber nicht nur das Endresultat – die Verteidigung der Dissertation – sondern auch selbst der Prozeß der wissenschaftlichen Forschung bringt allein schon Genugtuung…

Im frühen Frühjahr 1937 verschlug das Schicksal unsere Familie nach Pallassowka. Den Sommer hindurch wohnten wir in der kleineren Hälfte einer Lehmkate in Neu-Galka, im Herbst bezog unsere Familie (wir waren zu fünf) eine Einzimmerwohnung in einem neuen hölzernen Haus, das direkt vor dem Territorium der Pallassowskaer MTS stand, die sich etwa hundert Meter von der Eisenbahn entfernt ausbreitete. Nun fühlten wir uns nach den harten Strapazen unserer Wanderjahre als die glücklichsten Menschen auf der Welt.

In demselben Herbst kam ich also in die siebente Klasse der unvollständigen Mittelschule in Neu-Galka, die in der ganzen Umgegend als die beste Schule galt. Ich war wahrscheinlich einer der ältesten Schüler in der Klasse. Aber, klein von Wuchs, schmächtig und struppig, wie ich war, fiel mein Alter nicht auf.

Das erste Halbjahr bewältigte ich – mit äußerster Anstrengung! – mit genügenden und ein paar guten Zensuren. Und erst am Ende des Schuljahres hatte ich mich den Klassenbesten genähert und belegte etwa den siebenten Platz von oben. Kein Wunder: Es war die siebente Schule (in sieben verschiedenen Dörfern!), die ich nun besuchte, dabei mit Unterbrechungen, die manchmal ein halbes Jahr lang dauerten, was mit der Mühsal unseres Wanderlebens verbunden war.

Klassenbester war der kleine Bauernjunge Heinrich Bernhardt, ein Schüler, der alles auf der Welt wußte, sich in allem auskannte und ein phänomenales Gedächtnis hatte. Zu den Klassenbesten gehörten auch Leo Kufeld und Victoria Gräf. Leo war in Leningrad geboren, wo damals seine Eltern lebten. Aber sein Vater, der von der Wolga stammte, einer der Fünfundzwanzigtausendler, die von der Partei auf das Land geschickt worden waren, um dort den Bauern behilflich zu sein, die Kollektivierung durchzuführen, Maschinen-Traktoren-Stationen zu schaffen, Fabriken und Werke zu errichten, war in die ASSPdWD zurückgekehrt und hatte in Straßburg, nicht weit von Pallassowka, die erste Kollektivwirtschaft, wie damals die Kolchose bei uns hießen, gegründet.

Leo war ein Junge von mittlerem Wuchs mit sicherer Haltung und anziehendem äußeren. Er hatte eine kühne Stirn, war immer heiter, gesellig und hilfsbereit. Die Mädchen mochten Leo, aber er tat so, als ob er davon keine Ahnung hätte.

Alle Pioniere und Komsomolzen, waren wir außergewöhnlich aktiv. Alle Maßnahmen, die in dieser Zeit durchgeführt wurden, begrüßten wir begeistert und unterstützen, wo und wie wir nur konnten, alles Neue. Wir glaubten fest und überzeugt, daß alles, was unternommen wurde, einzig und allein richtig und nötig sei – kurz gesagt, wir waren der Sache der Partei treu ergeben und fühlten uns schon teilhaftig am Aufbau der kommenden glücklichen Zukunft. Und der Name Stalin – „unser Führer und Vater und Lehrer“ – war in aller Munde und wurde in den Versammlungen ständig hervorgehoben und wiederholt.

Leider hatten wir uns auch schon an die sich in den Zeitungen und Versammlungen und Kundgebungen ständig wiederholenden Ausdrücke „Schädlinge“, „Verräter“. „Feinde des Volkes“, „entlarven“, „ausrotten“, „vernichten“ und ähnliche Wendungen gewöhnt. Zwar konnten wir so manches nicht begreifen und ermessen.

Und wenn wir zu zweit oder zu dritt, oder manchmal auch zu viert zu Hause unsere Hausaufgaben machten, kam es des öfteren zu einem ernsten und offenen Meinungsaustausch. Und wir fragten uns, wie es denn möglich sei, daß dieser oder jener Vorsitzende oder Feldbauleiter, Mechaniker oder Brigadier, Kommunist oder Sympathisant über Nacht ein Feind des Volkes geworden war, wo er bis dahin doch nur Gutes getan hatte und selbst noch vor einem Dutzend von Jahren ein Armbauer oder gar Knecht gewesen war, also aus jenem Volke stammte, als dessen Feind er jetzt angeprangert wurde. Und wenn es nur einzelne Fälle gewesen wären. Aber es wurden ja Massenverhaftungen durchgeführt.

Den Schlußstrich unter unsere „Diskussionen“ zog gewöhnlich unser anerkannte Deuter und Ausleger, der kleine Heinrich Bernhardt: „Jungs, lassen wir das. Abändern können wir leider doch nichts. Und mit der Zeit wird sich alles klären und an den richtigen Platz stellen. Das beweisen alle Epochen der menschlichen Geschichte, die schon hinter uns liegen.“ Heute möchte ich hinzufügen: Wenn sie von den Historikern wahrheitsgetreu beleuchtet worden sind.

Auch unser gütiger Johann Petrowitsch Berger, der einer unserer Lieblingslehrer und unser aller Stolz war, der so zwei verschiedene Fächer wie Biologie und deutsche Sprache und Literatur unterrichtete, der uns in den Biologiestunden die Liebe zur näheren Heimat und in Sprach- und Literaturunterricht die Liebe zu unserer Muttersprache und Kultur anerzog, wurde eines Nachts verhaftet, und wir haben ihn nie wiedergesehen…

Victoria… Jetzt, da ich grau und alt bin, scheinen mir alle jungen Frauen und Mädchen schön zu sein. Und sie sind es auch! Denn sie sind jung. Damals hatte ich andere Augen, junge Augen. So will ich es versuchen, mir mit jenen jungen Augen Victoria wieder vorzustellen, um wenigstens eine tüchtige Teilskizze ihres damaligen Porträts entwerfen zu können.

Ein Kind war Victoria schon nicht mehr. Das Wörtchen Backfisch will mir aus irgendwelchem Grunde nicht gefallen. Victoria war ein Mädchen von schlankem Wuchs, mit hohem Gang. Grazil und graziös. Ihr anziehendes ovales Gesicht, das immer freundlich zu lächeln schien, hatte eine unwiderstehliche, magische Anziehungskraft. Ihre Wangen waren sommers wie winters mit dem Anhauch eines leisen Rosa bedeckt, ihre hohe weiße Stirn von samtschwarzem Haar umrandet. Und ihr schöner Mund mit den roten geschwungenen Lippen wirkte auf uns Jungen betörend und begehrend.

Victoria waren Charakterzüge eigen, worum so manches Mädchen sie hätte beneiden können. Sie war klug, dabei aber auch gleichzeitig ein fleißiges Bienchen. Sie war gutmütig und übte Nachsicht dort, wo es für den Betreffenden nützlich sein konnte. Gefallsucht und Hochmut waren ihr fremd. Ihre sanftbraunen Augen mit den langen seidigen Wimpern und den wundersam gebogenen Brauen darüber strahlten milde Wärme und Herzensgüte aus.

Eines Tages nach dem Unterricht wandte sich Victoria mir zu und lächelte mich an: „Edmund, du mit dem schönen Namen, der nicht gerade so ganz zu dir passen will, ich muß dir etwas unter vier Augen sagen.“ ‚Ist das etwa eine Anspielung auf meinen breiten Mund?‘ schoß es mir durch den Kopf (damals konnte ich noch nicht wissen, daß die Komponente „-mund“ in meinem Namen mit meinem Maul absolut nichts zu tun hatte.) Rot angelaufen, war ich trotzdem froh, daß mir Victoria Aufmerksamkeit schenkte, und saß ihr flugs in der Schulbank gegenüber, bemüht mit meinen Händen die Flicken auf den Knien meiner Hose zu bedecken, wobei aber die Flickflecken, die auf die Außenseiten meiner Hemdärmel gesetzt waren, um so mehr ins Auge stachen.

„Edmund, du bist doch schon ein großer Junge, guckst bestimmt schon den Mädchen nach und läufst so struwwelig herum. Kannst du dir denn nicht das Haar schneiden lassen?..“ „Kann ich, kann ich“, unterbrach ich sie und wurde noch röter. „Und wegen den Flicken auf deiner Hose brauchst du nicht rot zu werden. Du bist es doch nicht allein in der Klasse, der geflickte Hosen trägt. Und die Flecken sind ja meisterhaft aufgesetzt, daß man es kaum bemerkt. Deine Mama ist wahrscheinlich Näherin?“ – „Ja“, sagte ich, „aber, sie näht nur für die Familie“, was wahr und auch nicht wahr war, denn zum Nähen gab es nichts, es wurde nur geflickt und gestopft, gelappt und ausgebessert und, wo es noch möglich war, dies oder das gewendet.

Noch am selben Tag lief ich nach Pallassowka in die Friseurstube und ließ mir das Haar schneiden. Zufällig begegnete mir vor dem MTS-Gebäude die weizenblonde Frieda Jung, die mich etwas näher kannte als die anderen Mädchen unserer Klasse (ihr Vater war Direktor der MTS), blieb stehen, schnüffelte mit ihrer Stupsnase (sie vernahm also noch den Geruch des Kölnischwassers!) und tat erstaunt: „Was ist denn los, Edmund, daß du dich so herausstaffierst? Hast dich wohl verliebt? In wen, wenn ich fragen darf?“ – In dich, Frieda!“ platzte ich heraus, weil ich mich nichts anderes einfallen lassen konnte. Frieda, leicht errötend, parierte meine Antwort: „Ach, Edmund, ist ja lauter blanker Jux, was du mir da vormachen willst“, und verschwand im MTS-Kontor.

Und am nächsten Morgen lächelte mir Victoria besonders freundlich zu und nickte zufrieden Zustimmung. Ob das etwa das Zeichen einer Zuneigung war? Kaum . Obgleich ich es so gern hätte glauben machen wollen. Denn viele Jungen, und nicht unserer Klasse, verehrten sie oder beteten sie gar an – im geheimen selbstverständlich. Und Bewunderer und Liebhaber, Verehrer und Anbeter muß sie auch später – da sie vollends aufgeblüht war – reichlich genug gehabt haben…

„Ich habe sie geliebt“, gesteht mir heute Heinrich Bernhardt, Vater dreier Söhne und Großvater dreier Enkelkinder. „Aber davon hat sie nie etwas erfahren“, fügt er leise hinzu, als ob er befürchte, Victoria könne unser Gespräch hören. Auch Leo Kufeld würde dasselbe bestätigen und dabei noch umfassend kommentieren, aber er schläft seinen ewigen Schlaf irgendwo bei Korkino, Gebiet Tscheljabinsk. Auch noch manche andere aus Neu-Galka und Pallassowka stammende Bauernburschen, die in den unheilvollen Jahren 1942-1947 als sowjetdeutsche Trudarmisten an den Ufern der Sewernaja Dwina bei Kotlas ihr frühes Grab gefunden haben, würden – wenn sie noch wären – offen gestehen, daß sie Victoria liebevoll zugetan waren und sie ins Herz geschlossen hatten.

Die Verse, die ich damals Victoria gewidmet hatte und die Konglomerat von Nachahmungen (lies: Plagiat!) aus Dichtwerken von Goethe und Schiller und besonders Heine aus sich darstellten, wurden mir 1943 im Lager an der Kama im Ural, wo wir Arbeitsfrontler Bauholz einschlugen, von meinen Ledensgenossen endlich doch wegstibitzt, wie methodisch ich sie auch von einem Platz zum anderen versteckte: Den Knaster trieben meine Kameraden dann und wann irgendwo auf, aber Papier gab es keines, es wurde dafür sogar das obere, fast durchsichtige wachsgelbe Häutchen der Kiefernrinde verwendet, was aber allmächtig übel roch. Als ich die Entwendung feststellen mußte, sagte ich mir im stillen: Auf Wiedersehen, Victoria!..

Habe ich da unlängst (aus zuverlässiger, sicherster Quelle!) erfahren müssen, daß Victoia kinderlos und allein ist. Daß sie noch immer allein war. Daß sie nie verheiratet war. Unbegreiflich. Widersinnig.

Ob das überhaupt denkbar ist? Ob das einzigartige beglückende Gefühl der Liebe, worin letzten Endes der Sinn des Lebens gipfelt, so gezügelt, so gebändigt werden kann? Ob ein außergewöhnliches, erschütterndes Erlebnis zur Verwirrung geführt hat? Ob es die Folge der Wirren und Unbilden unserer Leidensjahre sind? Ob es das Ergebnis der Wirrsale einer schutzlosen Seele ist? Ob es die Angst vor einer herben Enttäuschung sein konnte, die Victorias Erwartungen, Hoffnungen und Träume zerstörte? Ob, ob, ob…

Vielleicht hat sie Ausgleichung der Genugtuung in ihrem Beruf gefunden, in ihrer jahrzehntelangen pädagogischen Tätigkeit, ständig von lebensfrohen und lebenslustigen Studenten umgegeben, die sie ihr Alleinsein, ihre Einsamkeit vergessen lassen.

Wir können nur irgend etwas vermuten. Aber dieses für uns geheimnisvolle Irgend etwas weiß und ermißt und behütet Victoria in den tiefsten Winkeln ihrer Seele als Kleinod, als Erinnerung und Andenken an jene nur ihr allein bekannte und verständliche Zeit ihrer Sternstunden. Und an der noch glimmenden Glut der Reminiszens – am Kamin ihrer Jugendträume – erwärmt sie ihr gläubiges Herz; und es erhebt sich der Himmel ihrer Innenwelt, und die graublauen Fernen werden anemonen- und lichtblau, und es schmilzt das Eis der Befangenheit und der Beklemmung; und Victorias fernes, erlebnisreiches Gestern wird zu ihrem Heute, das ihre innere Ruhe und innere Befriedigung empfinden läßt.

Und dennoch, dennoch ist es schweigende innere Einsamkeit, die so manchmal bedrückend und beklemmend sein muß, aber auch ganz unverhofft oder, umgekehrt, heraufbeschworen, aufflammen und aufleuchten kann, wie eine in einem stillen Winkel des Gartens erblühende Rabatte im Juni als –
Versteinerte Blumen

Es brausen die Wogen des Lebens,
sie eilen ins Endlose hin…
Und war deine Müh nicht vergebens?
Worin, ach worin war ihr Sinn!
Im Trubel des Alltags vergessen
wir oft, was wir waren und sind…
Den Wert jeder Tat zu ermessen,
wohl niemanden vollends gelingt…
Erwartung und Hoffnung und Träume
sind Blumen auf unserem Weg.
Und wenn das Geschick sie versteinert –
kein Einwand ihr Ziel widerlegt:
Versteinerte Blumen sind Spuren,
daß einst sie geblüht und geprangt
auf sonnigen, wonnigen Fluren
der Zeit, die das Ihre verlangt.

                        1989

Lied vom Schnee

Wie genau der Kalender
uns Schnee prophezeit:
Anfang November –
und siehe, es schneit!
Er webt schon der Erde
ein weißwollnes Kleid.
Noch ein Flitterwöchner,
beständig er eilt.
damit auch im Winter
die Erde sich freut.

Er steppt eine Decke
aus Watte und Wolle
für die ruhende Steppe
und schüttelt die Betten
so schön wie Frau Holle
und summt ihr ein Lied:
„…und sei nicht benommen,
ich wiege dich ein
und werde dich wecken,
sobald es die Sonne
dann gut wieder meint!“

Ob früh oder spät,
ob Tag oder Nacht –
so gut es nur geht,
er das Feld überwacht:
Als Wölkchen am Himmel
er eben noch schwebt,
Minuten danach
er fleißig schon sät:
Und die Stimmung ist heiß,
und die Flocken sind weiß.

Er denkt an die Ernte,
er denkt an die Menschen,
die allmählich es lernten –
Kälte und Dürre
und schwankenden Willen
und Zweifel bezwingend –
die Felder bestellen
mit dem friedlichen Pflug,
mit Herz und mit Hand,
daß zur Erntezeit
der wogende Weizen
das Auge erfreurt
und mit Brot dann versorgt
das Heimatland…

Und ist’s nicht zu kalt
dort im schweigenden Wald?
Ob die Bäume nicht frieren
und den Mut nicht verlieren?..

Barhäuptig,
blauäugig,
wohlwollend lächelnd,
schenkt er, Wärme
             versprechend,
den schlummernden Bäumen
flockenbehangene
erdumspannende
Winternachtsträume –
die alles Lebende
ewig bewegende
uralte Sehnsucht
nach Sonne und Frühling,
da mit Dankgefühlen
sie aufs neue ergrünen…

Wie schnell am Kalender
die Blätter sich wenden!
Und es geht schon zu Ende
der kalte Dezember.
Und die Flitterwochen
des Schnees sind vorbei:
Denn die Winterfröste
klingen
      und krachen
            und pochen,
und noch fern ist der Mai.
Jedermann hat seine Pflicht,
seine Freuden und Sorgen,
will er dem Ruf
seines Herzens folgen.
Auch der Schnee,
wie ihr seht,
seine Berufung versteht.
Und er wird nun solide,
gesetzt und gediegen –
so wie es sich ziehmt.
Und er tut da sein Bestes –
noch besser als Gestern!
Aber nicht mit dem Zweck,
daß man später ihn rühmt –
allein mit dem Ziel,
daß üppig im Frühling
die Erde rings grünt…

              2.

Seit Jahrtausenden stöbert
zur Erde der Schnee…
Wenn es Schnee hat gegeben,
ist noch immer zufrieden
der Bauer gewesen.
Und er singt seine Lieder,
denn seit eh und je
ist der Schnee
ein Gehilfe
auf des Landmanns
Gefilden:
Je tiefer der Schnee,
desto höher der Klee.
Desto blauer der Himmel.
Desto heller die Stimme
der Freundschaft,
der Eintracht
und der Menschenliebe.
Desto stärker und fester
das Bollwerk des Friedens…

Und es sollen für immer
die Lieder verklingen,
die jahrhundertelang
vom Neuschnee wir singen?
O Menschen, o Brüder,
was bliebe uns dann?
Allein nur die Kälte
erdrückender Zwang!
Das darf es nicht geben,
solange wir Menschen
auf Erden hier leben!
Soll denn der Schnee
nicht mehr wehen,
der reine und weiße,
zu unserer Freude?
Soll er als radioaktives
Gemisch niedergehen
und Unheil rings stiften,
die Gärten vergiften,
das Allerbeste –
die Fluren und Felder,
die Wiesen und Wälder,
die saftigen Weiden,
das Meer von Getreide –
für immer verpesten?!

O wütender
tödlicher Haß!
Soll denn der Schnee
nicht mehr wirbeln
und nicht mehr wie früher
die Erde vor Stürmen
und Frösten beschirmen
und im Frühling
die Fluren tränken
und Leben spenden
mit seinem Naß?!!

Wird die Daunendecke –
der weiche Schnee –
ohne Gewissen
vom Körper der Erde
heruntergerissen,
so wird ihre Brust,
mit Raketen
und Dutzenden anderer
tausendfüßiger
Massenvernichtungswaffen
bis zum Rande gespickt,
ein einziges Weh!
Das darf sie nicht werden!
Um’s Sein oder Nichtsein,
O Menschen, es geht!

Was denkt ihr euch aus,
ihr Herren aus Übersee
dort im Weißen Haus,
die ihr doch sicher
eure Nächsten liebt?
Wollt ihr den weißen Schnee,
die Erde, den Himmel
mit den blinkenden Sternen –
alles und alles verwandeln
in ein nukleares Inferno,
wo es für niemanden
Rettung je gibt?
Auch eure Nächsten
fliegen heraus
aus den Stahlbetonbunkern
und verdunsten
in den gellenden Flammen,
im glühroten Äther
zusammen mit euch,
ihr Missetäter!

         ***
Schon wieder eilen
meine munteren Enkel
auf die Straße hinaus
und tummeln sich dort
im tiefen Schnee
nach Herzenslust:
Schnee,
sei gerühmt, sei gelobt!..
Doch Kummer bedrückt
mein Herz in der Brust,
wenn ich daran denke,
daran denken muß,
daß dieser Winterfreude,
daß diesem Kinderglück
ein jähes Ende droht.

O Menschen, seid wachsam,
damit das Massaker
eines tausendfachen
zerbombten Nagasakis,
dessen schwörende Wunden
heute noch klaffen,
und eines bestialisch
niedergebrannten Chatyns,
das als glühende Asche,
als mahnendes Wehklagen
bebt in den Lüften
der fünf Kontinente,
sich nie wiederholt!

1985

Rätsel

Ist das Rätsel aber schwer!
Denn ich weiß es ja nicht mehr,
ob das Pferd ein Haustier ist,
ob der Esel Würmer frisst,
ob die Rinder Wolle geben,
ob Kaninchen Eier legen,
ob die Hunde Pfeife rauchen,
ob sie bellen oder fauchen,
ob die Mäuse Katzen fressen …
Alles habe ich vergessen!

Und ich frag mich immer wieder:
Trillert oder grunzt die Ziege?
Sind`s die Ferkel, die da gackern?
Sind`s die Hühner, die da schnattern?
Sind`s die Kücken, die da schnauben?
Wiehert oder kräht die Taube?
Meckert oder muht das Schwein?
Blökt das Schaf den nur allein?

Und ich peinige mich fleißig,
ob die Enten nicht mehr beißen,
ob die Gans das Haus bewacht,
wer von allen Männchen macht,
ob die Lämmer morgens piepen,
ob die Zicklein abends fiepen,
wer da bellt und wer da bockt,
wer da auf der Stange hockt.

„Köpfchen! Köpfchen!“ raunt es da,
und bald rufst du: „Heureka!“

Tiefempfunden

Die Bitternis, sorgengeladen,
hat Angst vor der Mauer
der Verständnislosigkeit
und möchte der Welt entfliehen.

Den Wermut am Zaun dort –
den hat sie vor Gram übersehen.
Ihren Schmerz tiefempfunden,
schaut er ihr kummervoll nach
und würde so gern sie bedauern.

Denn auch er ist ja erdgebunden
und weiß, was Wehmut heißt
und innere Einsamkeit…

                        Herbst 1990

Unstillbares Sehnen

Ja, ja: Vom Januar
bis zum Dezember,
von Jahr zu Jahr,
von Anbeginn
bis hin zum Ende
wandern die Träume –
bald rosafarben,
bald grau-schwarz-weiß,
bald sonnig und wonnig,
bald diesig und trüb –
durch Raum und Zeit
des irdischen Reiches,
das uns so lieb
trotz mancher schrillen
Widerwärtigkeit…

Hier ist ein Bäumchen,
ein schlankes, ergrünt.
Dort ist ein Blümchen,
ein zartes, erblüht.
Im Gebirgsfluss,
nicht weit von der Quelle
schnellen Forellen
flink und grazil
aus dem Wasser
zum Frühlicht empor.

Schwalben und Lerchen
und Drosseln und Finken
zwitschern und pfeifen
und schmettern und trillern
und singen begeistert
im Vogelscharchor.

Und Tauperlen hängen
an Blättern und Stengeln
und blinken und glitzern
und strahlen und blitzen –
der Sonne froh dankend –
wie Schmuckdiamanten…

O wenn es das Trübe
und Böse nicht gäbe
im Traum und im Leben –
die Welt wäre offen
für Güte und Liebe!..

Und doch – wie gewöhnlich:
Wir träumen und hoffen.
Trotz Kummer und Tränen…
O ewiges Sehnen!..