Irren ist menschlich

Der Freitag

   Durch die Straßen jagen Autos und Trolleybusse, über die Gehsteige hasten Menschen. Alle haben es eilig. Alle, bloß Walter nicht. Er steht an der Normaluhr und summt einen Schlager vor sich hin.
   Langsam kriecht der große Zeiger über das Zifferblatt. Fünf Minuten vergehen. Zehn Minuten. Fünfzehn Minuten. Walter summt nicht mehr. Er wird verdrießlich. 
   Punkt sieben wollte sie hier sein. Nun ist es aber schon halb acht.
   Ob sie noch vor dem Spiegel steht und sich schön macht? Sie trägt doch eine so schicke Frisur. Oder sitzt sie gar noch in der Sofaecke und überlegt, welches Kleid sie anziehen soll? Das wäre gemein! Vielleicht ist sie schon unterwegs und guckt rasch mal in einer Konditorei nach, ob ihr Lieblingskonfekt zu haben ist? Sie hat doch Süßigkeiten so gern!
   Der Zeiger rückt weiter. Ist ihr etwas zugestoßen? Walter stockt der Atem, sein Herz klopft bis zum Halse herauf. Ein anderer wäre längst auf und davon, aber Walter… Richtig, ihr habt es erraten: Walter ist über die Ohren verliebt. In wen? In Gerda natürlich. Gerda ist das reinste, das feinste, das schönste, das beste Mädchen. Ihr werdet das verstehen. Auch ihr seid oder ward ja mal jung und verliebt. Na also!
   Zum ersten Mal traf Walter seine Gerda im Vestibül des Opernhauses. Später kam dann die Geschichte mit dem Kuß. Der Kuß hatte Gerda gefallen. Das gab sie erst viel später zu. Es war ein geraubter, ein gestohlener Kuß. Diebstahl bleibt Diebstahl, auch wenn es sich um Küsse handelt. So folgte ihm damals eine Ohrfeige, und sogar eine recht kräftige. Diese Geschichte ist jedoch längst vergeben und vergessen.
   Ob nicht gar Kurt im Spiel ist? Der Bursche ist doch ganz versessen auf Gerda! Keine Spur. So einer ist unser Walter nicht. Wenn dir ein anderer besser gefällt, dann… Walter knirscht mit den Zähnen und ballt die Fäuste.
   Ein Taxi kommt vorbei. Er hebt die Hand:
   „Kosmonautenstraße 77!“
   Da taucht unerwartet Kurt vor ihm auf.
   „Tag!“
   „Tag!“
   „Wie geht’s?“
   Kurt mißt seinen Freund von oben bis unten.
   „Du bist ja heute so geschniegelt und gebügelt! Wohin des Wegs, wenn man fragen darf? Und warum schwänzt du heute? Ihr habt doch freitags zu dieser Zeit Philosophie! Oder -?“
   Walter reißt die Augen auf.
   „Mensch, wenn du für Sonnabend ein Stelldichein verabredet hast, mußt du noch ganze vierundzwanzig Stunden warten. Soll ich dir etwas zu essen bringen?“
   Seine Stimme klingt mitleidig. Walter aber ist aus allen Wolken gefallen.
   „Kurt, wenn das stimmt… wenn das wahr ist…“
   Lassen wir den Vorhang sinken. Wer jung und verliebt war, dem ist gewiß etwas Ähnliches widerfahren. Wer nicht… Nun, für den ist der Freitag eben ein Freitag.

Die Fingerchen

   An der Haltestelle herrscht das übliche Gedränge. Spitzenzeit! Jeder hat es eilig, jeder will rechtzeitig an Ort und Stelle sein. Das ist verständlich. Sogar lobenswert. Aber wozu die Grobheiten? Muß das sein?
   Da kommt die Eins. Auf Biegen oder Brechen, ich muß hinein! Ich bleibe dabei aber höflich. Ein Mann muß sich doch beherrschen können! Zuerst lasse ich alle Frauen durch, alte und junge, dann kommen die Männer dran.
   Die Einst bleibt stehen. Die Tür geht auf. Sie wird im Sturm genommen. Die Mahnungen der Schaffnerin gehen im Lärm unter. Ein baumlanger Lümmel schiebt mit seinen Boxenfäusten alle zur Seite, bahnt sich durch das Gedränge den Weg und nimmt mit einem selbstzufriedenen Grinsen auf dem Sitz der Schaffnerin Platz.
   Ein altes Mütterchen und eine blonde Schöne, die von diesem Zwei-Meter-Untier vom Trittbrett gefegt wurden, landen in meinen Armen. Das Mütterchen schnappt nach Luft und murmelt etwas von Schmach und Schande. Das Mädchen streift mich mit einem vernichtenden Blick. ‚Du bist ja nicht besser als die anderen.‘ sagt dieser Blick. Ich senke die Augen.
   Natürlich kommt jetzt die Vier, darauf die Sieben, dieser folgt die Acht. Ich ärgere mich. Hätte ich dem Mädchen nicht ein paar mitfühlende Worte sagen können? Dann hätte sie verstanden, daß ich anders bin als alle.
   Wo ist sie eigentlich? Ah, dort steht sie, neben der Alten, nestelt an ihrem Haar. Herrgott, ist sie schön! Goldblondes Haar, große blaue Augen, Grübchen in den Wangen und die Figur… Mir stockt der Atem. Wenn sie mich bloß angucken würde! Ein Blick aus diesen Augen würde mich glücklich machen. Aber nein, ich bin Luft für sie.
   Da kommt die Eins. Wieder Gezeter, wieder drängen sich Menschen zum Eingang.
„Verzeihung, dürfte ich Ihnen…“ Nein, sie bemerkt mich nicht. Ich nütze die letzte Möglichkeit: „Zwei Fahrscheine, bitte!“ Ja, Kuchen! Die Blonde hat schon eine Münze aus ihrem Täschchen gefischt und reicht sie der Schaffnerin. Ich drücke den zweiten Fahrschein dem alten Mütterchen in die Hand, und diesmal murmelt ihr zahnloser Mund etwas von Achtung und Ehre-das-Alter.
   „Junger Mann, was ist mit Ihnen?“ fragt die Schaffnerin. „Warum stehen Sie so gottverlassen da? Treten Sie in die Wagenmitte!“
   Mechanisch folgte ich der Aufforderung, mechanisch greife ich mit der linken Hand nach der Rückenlehne des Sitzes neben mir. Und da durchzuckt es mich: Die zarten Fingerchen einer kleinen Hand berühren die meinige. Ich weiß es, ich fühle es: Das ist ihre Hand! Sie hat also doch alles verstanden, hat erkannt, was ich ihr sagen wollte!
   Vorsichtig streichele ich die kleine weiche Hand. Sie läßt es zu. Ich bin trunken vor Freude und Liebe. Ihre Hand – kann es sein? – ihre Hand erwidert meinen Druck!
   Da höre ich die Stimme der Schaffnerin:

   „Haltestelle Bahnhofstraße!“
   Bahnhofstraße? Das ist… hier müßte ich doch aussteigen! Ich zögere nicht länger als eine Sekunde. Mag kommen, was da kommen mag! Verspätet habe ich mich sowieso. Ich werde weiterfahren! Und als ob sie meine Gedanken lesen könne, zuckt die kleine Hand unter meinen Fingern.

   Da… Grundgütiger Himmel! Sie steht am Ausgang, sie steigt aus, die Blonde, deren Hand ich doch in diesem Augenblick liebkosend streichle.
   Ich wende mich um. Auf dem Platz hinter mir sitzt ein sommersprossiger stupsnäsiger Schuljunge und grinst mich blöd an.

                                                              1986(?)