Victoria

VICTORIA!.. gewiß anders konnte es ja auch nicht sein. Denn nicht umsonst hatten ihre Eltern sie auf den Namen Victoria taufen lassen. Wenn die Eltern ihrem Baby den Namen Victoria geben, dann verbinden sie diese Wahl in der Regel mit gewissen Erwartungen und Träumen. Diese Träume gehen zwar nicht immer in Erfüllung, aber manchmal müssen sie eben Wirklichkeit werden. Was wären andernfalls Hoffnung und Glaube!

Sehe ich da vor nicht allzulanger Zeit in einer Zeitung ein Gruppenbild, vor dem Portal einer Hochschule in Wolgograd aufgenommen. Und auf diesem Foto fällt mir eine nicht mehr ganz junge Frau ins Auge – mit Zügen, die mir, wenn auch nicht gerade bekannt, so doch irgendwie vertraut scheinen und mich an eine ferne Zeit erinnern. Wo? Wann? Unter welchen Umständen? In Alma-Ata? In Sarinsk? In Barnaul? Im Ural? Oder gar vor dem Kriege in Balzer an der Wolga? Oder noch woanders?

Und plötzlich muß ich leise auflachen. Unter dem Bild gibt es ja eine Unterschrift! Und ich lese: („V.l.n.r.“ oder auch umgekehrt, denn das weiß ich nicht mehr und muß meine Jugendfreundin tausendmal um Entschuldigung bitten:

Der Zufall wollte es, daß mir diese Zeitung verlorengegangen ist). Und in der Unterschrift  e n t d e c k t e  ich – o Gott, o Gott, o Gott! – den Namen: Victoria Gräf, Kandidat der philologischen Wissenschaften, Dozent. Das ist also Victoria. Victoria Gräf aus Pallassowka, genauer gesagt, aus Neu-Galka. Denn es kann doch nicht zwei Victorias mit demselben Familiennamen Gräf geben, rede ich mir ein. Und die vertrauten Züge, die mehr als Worte bezeugen!

Und warum war sie eigentlich eine Gräf, geht es mir durch den Kopf. Wahrscheinlich ist das eine Verballhornung des Namens Graf. Und wer weiß, ihr ferner Vorfahr väterlicherseits war vielleicht wirklich ein Graf, ein heruntergekommener natürlich, phantasiere ich weiter, der der Einladung Katharinas II. gefolgt war, sein Glück an der Wolga suchen wollte und sich Ende der 60-er Jahre des achtzehnten Jahrhunderts in der Kronkolonie Galka auf der Bergseite niedergelassen hatte, dann aber, nach paar Jahrzehnten, zusammen mit anderen Bauern auf der Suche nach besserem Boden auf die Wiesenseite kam, wo die enttäuschten Umsiedler weit draußen in der Steppe (der ganze Streifen mehr fruchtbaren Bodens in der Nähe des Wolgaufers war schon mit Berufer- und Kronkolonien besiedelt) an dem seichten Flüßchen Torgun die Tochterkolonie Neu-Galka gründeten, möglicherweise schon allein deswegen, weil sie das Wanderleben müde waren. Denn, wie es sich herausstellte, war hier der Boden ärmer und dürrer als dort auf der Bergseite.

Und woher sollten sie gewußt haben, daß der deutsche Naturforscher Peter Simon Pallas, der im Auffrage der Petersburger Akademie in den Jahren 1768-1774 unter anderen auch diese Gegend bereist hatte und in seinen Reiseberichten schrieb, die Steppe am Torgun sei außergewöhnlich trocken und öde, es sei weit und breit nichts außer vertrocknetem Gras und Wermutstauben zu sehen und die ganze Gegend sei so fruchtlos, daß sie sogar für die Viehzucht untauglich sei…

Kam mir da vor etwa zwei Jahren ein Büchlein in die Hand, das, wenn ich mich nicht irre, den Titel „Dort, wo der Torgun fließt“ trug. Torgun? Das muß doch irgendwo in den Wolgasteppen sein. Und ich begann das Büchlein interessiert durchzublettern. Dank der errichteten Bewässerungsanlagen kommt das Wolgawasser bis in den Torgun, und die Felder werden jetzt bewässsert, und rings blühen und gedeihen die Gärten und Fluren. Und zum Vergleich werden auch Worte aus dem Reisebericht von Pallas angeführt. Ein erprobter Kunstgriff. Denn Kontraste wirken auf den Leser überzeugender.

Aber in der Broschüre wird kein einziger Satz, kein einziges Wort davon erwähnt, daß hier länger als ein ganzes Jahrhundert hauptsächlich deutsche Ansiedler, Kolonisten, Rußlanddeutsche und später Sowjetdeutsche gelebt haben. Fleißige und arbeitsame Bauern, die diese öde wasserlose Steppe urbar gemacht hatten, mit ihren rissigen und schwieligen Händen Wasserläufe und Kanäle gruben, das Frühjahrswasser abdämmten, von Geschlecht zu Geschlecht mit ihrem Schweiß und Blut den salzigen Boden düngten, Roggen und Weizen und andere Kulturen anbauten, intensiv Viehwirtschaft trieben und Ende der dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts ihre Dörfer zu einem gewissen wirtschaftlichen und kulturellen Aufschwung gebracht hatten.

Kein einziges Wort. Deutsche? Die konnte es hier nicht gegeben haben. Die dürfte es hier nicht gegeben haben… Konnte es nicht? Durfte es nicht? Heute? In unserer Zeit? ..Na ja, das Büchlein war vielleicht auch ein paar Jahre früher erschienen. Ich weiß es nicht, denn ich habe es nicht, denn ich habe es in den Papierkorb geworfen. Halbe Wahrheit will mir nicht bekommen…

Aber warum sollte Victorias Ahn, muß ich über mich selbst lächeln, unbedingt ein Graf gewesen sein, denn weit nicht alle Grafs in deutschen Landen waren Grafen. Und obendrein: Weder Neu-Galka noch Pallassowka, die damals schon fast ineinanergewachsen waren und nur noch durch den Marktplatz getrennt wurden, waren, wie mir nun einfällt, Victorias Zuhause. Denn sie stammte, glaube ich, aus einem kleinen Dörfchen des Nachbarkantons Gmelinka.

Und da schießt es mir durch den Kopf: Aber warum eigentlich Victoria… Gräf? Das ist doch ihr Mädchenname gewesen. Und seit jener Zeit, als wir uns kannten, sind schon viele Jahre verflossen. Sie könnte eine Kufeld oder eine Bernhardt, oder eine Hoffmann usw. sein. Gründe hätte es dafür reichlich genug gegeben. Aber dann kam der Krieg, der uns von den deutschen Faschisten aufgezwungen worden war, die gewaltsame Aussiedlung der Wolgadeutschen, die uns in Kasachstan, im Altai und in Sibirien zerstreute, die Zeit der Arbeitsarmee, die für uns nicht vier Jahre wie der Krieg, sondern in vielen Fällen doppelt solange gedauert hatte, und bei all dem die Verbannung als Sonderumsiedler, die erst 1956 aufgehoben wurde. Wieviel schwere, dramatische und tragische Schicksale hat das alles mit sich gebracht!..

Victoria, und nicht verheiratet – das kann ich mir einfach nicht vorstellen. Aber, sage ich mir, es gibt ja auch Ausnahmen aus der anerkannten Regel, wo bei der Eheschließung die Braut darauf besteht, ihren Mädchennamen zu behalten. Also muß Victorias Bräutigam entgegenkommend, ritterlich gehandelt haben. Und allem Anschein nach ist ihr Gatte auch Philologe oder Psychologe, oder etwas Ähnliches von Beruf. Denn gleich und gleich gesellt sich gern, heißt es im Volksmund. Die Physik belehrt uns zwar eines anderen – daß sich gleichgeladene Pole einander abstoßen. Aber diese Erscheinung heißt Magnetismus. In unserem Falle geht es zwar auch um Magnetismus, aber um die Anziehungskraft, die zwischen zwei Seelen entstehen und ihrer Stärke nach dem Magnetfeld der Erde gleichkommen kann.

Und glücklich muß Victoria sein, und Kinder und Enkelkinder muß sie haben. Und ihr Tätigkeitsfeld ist nicht minder interessant. Darin habe ich gewisse Erfahrung. Selbstverständlich hat sie nächtelang und jahrelang über ihrer Dissertationsschrift sitzen müssen. Aber nicht nur das Endresultat – die Verteidigung der Dissertation – sondern auch selbst der Prozeß der wissenschaftlichen Forschung bringt allein schon Genugtuung…

Im frühen Frühjahr 1937 verschlug das Schicksal unsere Familie nach Pallassowka. Den Sommer hindurch wohnten wir in der kleineren Hälfte einer Lehmkate in Neu-Galka, im Herbst bezog unsere Familie (wir waren zu fünf) eine Einzimmerwohnung in einem neuen hölzernen Haus, das direkt vor dem Territorium der Pallassowskaer MTS stand, die sich etwa hundert Meter von der Eisenbahn entfernt ausbreitete. Nun fühlten wir uns nach den harten Strapazen unserer Wanderjahre als die glücklichsten Menschen auf der Welt.

In demselben Herbst kam ich also in die siebente Klasse der unvollständigen Mittelschule in Neu-Galka, die in der ganzen Umgegend als die beste Schule galt. Ich war wahrscheinlich einer der ältesten Schüler in der Klasse. Aber, klein von Wuchs, schmächtig und struppig, wie ich war, fiel mein Alter nicht auf.

Das erste Halbjahr bewältigte ich – mit äußerster Anstrengung! – mit genügenden und ein paar guten Zensuren. Und erst am Ende des Schuljahres hatte ich mich den Klassenbesten genähert und belegte etwa den siebenten Platz von oben. Kein Wunder: Es war die siebente Schule (in sieben verschiedenen Dörfern!), die ich nun besuchte, dabei mit Unterbrechungen, die manchmal ein halbes Jahr lang dauerten, was mit der Mühsal unseres Wanderlebens verbunden war.

Klassenbester war der kleine Bauernjunge Heinrich Bernhardt, ein Schüler, der alles auf der Welt wußte, sich in allem auskannte und ein phänomenales Gedächtnis hatte. Zu den Klassenbesten gehörten auch Leo Kufeld und Victoria Gräf. Leo war in Leningrad geboren, wo damals seine Eltern lebten. Aber sein Vater, der von der Wolga stammte, einer der Fünfundzwanzigtausendler, die von der Partei auf das Land geschickt worden waren, um dort den Bauern behilflich zu sein, die Kollektivierung durchzuführen, Maschinen-Traktoren-Stationen zu schaffen, Fabriken und Werke zu errichten, war in die ASSPdWD zurückgekehrt und hatte in Straßburg, nicht weit von Pallassowka, die erste Kollektivwirtschaft, wie damals die Kolchose bei uns hießen, gegründet.

Leo war ein Junge von mittlerem Wuchs mit sicherer Haltung und anziehendem äußeren. Er hatte eine kühne Stirn, war immer heiter, gesellig und hilfsbereit. Die Mädchen mochten Leo, aber er tat so, als ob er davon keine Ahnung hätte.

Alle Pioniere und Komsomolzen, waren wir außergewöhnlich aktiv. Alle Maßnahmen, die in dieser Zeit durchgeführt wurden, begrüßten wir begeistert und unterstützen, wo und wie wir nur konnten, alles Neue. Wir glaubten fest und überzeugt, daß alles, was unternommen wurde, einzig und allein richtig und nötig sei – kurz gesagt, wir waren der Sache der Partei treu ergeben und fühlten uns schon teilhaftig am Aufbau der kommenden glücklichen Zukunft. Und der Name Stalin – „unser Führer und Vater und Lehrer“ – war in aller Munde und wurde in den Versammlungen ständig hervorgehoben und wiederholt.

Leider hatten wir uns auch schon an die sich in den Zeitungen und Versammlungen und Kundgebungen ständig wiederholenden Ausdrücke „Schädlinge“, „Verräter“. „Feinde des Volkes“, „entlarven“, „ausrotten“, „vernichten“ und ähnliche Wendungen gewöhnt. Zwar konnten wir so manches nicht begreifen und ermessen.

Und wenn wir zu zweit oder zu dritt, oder manchmal auch zu viert zu Hause unsere Hausaufgaben machten, kam es des öfteren zu einem ernsten und offenen Meinungsaustausch. Und wir fragten uns, wie es denn möglich sei, daß dieser oder jener Vorsitzende oder Feldbauleiter, Mechaniker oder Brigadier, Kommunist oder Sympathisant über Nacht ein Feind des Volkes geworden war, wo er bis dahin doch nur Gutes getan hatte und selbst noch vor einem Dutzend von Jahren ein Armbauer oder gar Knecht gewesen war, also aus jenem Volke stammte, als dessen Feind er jetzt angeprangert wurde. Und wenn es nur einzelne Fälle gewesen wären. Aber es wurden ja Massenverhaftungen durchgeführt.

Den Schlußstrich unter unsere „Diskussionen“ zog gewöhnlich unser anerkannte Deuter und Ausleger, der kleine Heinrich Bernhardt: „Jungs, lassen wir das. Abändern können wir leider doch nichts. Und mit der Zeit wird sich alles klären und an den richtigen Platz stellen. Das beweisen alle Epochen der menschlichen Geschichte, die schon hinter uns liegen.“ Heute möchte ich hinzufügen: Wenn sie von den Historikern wahrheitsgetreu beleuchtet worden sind.

Auch unser gütiger Johann Petrowitsch Berger, der einer unserer Lieblingslehrer und unser aller Stolz war, der so zwei verschiedene Fächer wie Biologie und deutsche Sprache und Literatur unterrichtete, der uns in den Biologiestunden die Liebe zur näheren Heimat und in Sprach- und Literaturunterricht die Liebe zu unserer Muttersprache und Kultur anerzog, wurde eines Nachts verhaftet, und wir haben ihn nie wiedergesehen…

Victoria… Jetzt, da ich grau und alt bin, scheinen mir alle jungen Frauen und Mädchen schön zu sein. Und sie sind es auch! Denn sie sind jung. Damals hatte ich andere Augen, junge Augen. So will ich es versuchen, mir mit jenen jungen Augen Victoria wieder vorzustellen, um wenigstens eine tüchtige Teilskizze ihres damaligen Porträts entwerfen zu können.

Ein Kind war Victoria schon nicht mehr. Das Wörtchen Backfisch will mir aus irgendwelchem Grunde nicht gefallen. Victoria war ein Mädchen von schlankem Wuchs, mit hohem Gang. Grazil und graziös. Ihr anziehendes ovales Gesicht, das immer freundlich zu lächeln schien, hatte eine unwiderstehliche, magische Anziehungskraft. Ihre Wangen waren sommers wie winters mit dem Anhauch eines leisen Rosa bedeckt, ihre hohe weiße Stirn von samtschwarzem Haar umrandet. Und ihr schöner Mund mit den roten geschwungenen Lippen wirkte auf uns Jungen betörend und begehrend.

Victoria waren Charakterzüge eigen, worum so manches Mädchen sie hätte beneiden können. Sie war klug, dabei aber auch gleichzeitig ein fleißiges Bienchen. Sie war gutmütig und übte Nachsicht dort, wo es für den Betreffenden nützlich sein konnte. Gefallsucht und Hochmut waren ihr fremd. Ihre sanftbraunen Augen mit den langen seidigen Wimpern und den wundersam gebogenen Brauen darüber strahlten milde Wärme und Herzensgüte aus.

Eines Tages nach dem Unterricht wandte sich Victoria mir zu und lächelte mich an: „Edmund, du mit dem schönen Namen, der nicht gerade so ganz zu dir passen will, ich muß dir etwas unter vier Augen sagen.“ ‚Ist das etwa eine Anspielung auf meinen breiten Mund?‘ schoß es mir durch den Kopf (damals konnte ich noch nicht wissen, daß die Komponente „-mund“ in meinem Namen mit meinem Maul absolut nichts zu tun hatte.) Rot angelaufen, war ich trotzdem froh, daß mir Victoria Aufmerksamkeit schenkte, und saß ihr flugs in der Schulbank gegenüber, bemüht mit meinen Händen die Flicken auf den Knien meiner Hose zu bedecken, wobei aber die Flickflecken, die auf die Außenseiten meiner Hemdärmel gesetzt waren, um so mehr ins Auge stachen.

„Edmund, du bist doch schon ein großer Junge, guckst bestimmt schon den Mädchen nach und läufst so struwwelig herum. Kannst du dir denn nicht das Haar schneiden lassen?..“ „Kann ich, kann ich“, unterbrach ich sie und wurde noch röter. „Und wegen den Flicken auf deiner Hose brauchst du nicht rot zu werden. Du bist es doch nicht allein in der Klasse, der geflickte Hosen trägt. Und die Flecken sind ja meisterhaft aufgesetzt, daß man es kaum bemerkt. Deine Mama ist wahrscheinlich Näherin?“ – „Ja“, sagte ich, „aber, sie näht nur für die Familie“, was wahr und auch nicht wahr war, denn zum Nähen gab es nichts, es wurde nur geflickt und gestopft, gelappt und ausgebessert und, wo es noch möglich war, dies oder das gewendet.

Noch am selben Tag lief ich nach Pallassowka in die Friseurstube und ließ mir das Haar schneiden. Zufällig begegnete mir vor dem MTS-Gebäude die weizenblonde Frieda Jung, die mich etwas näher kannte als die anderen Mädchen unserer Klasse (ihr Vater war Direktor der MTS), blieb stehen, schnüffelte mit ihrer Stupsnase (sie vernahm also noch den Geruch des Kölnischwassers!) und tat erstaunt: „Was ist denn los, Edmund, daß du dich so herausstaffierst? Hast dich wohl verliebt? In wen, wenn ich fragen darf?“ – In dich, Frieda!“ platzte ich heraus, weil ich mich nichts anderes einfallen lassen konnte. Frieda, leicht errötend, parierte meine Antwort: „Ach, Edmund, ist ja lauter blanker Jux, was du mir da vormachen willst“, und verschwand im MTS-Kontor.

Und am nächsten Morgen lächelte mir Victoria besonders freundlich zu und nickte zufrieden Zustimmung. Ob das etwa das Zeichen einer Zuneigung war? Kaum . Obgleich ich es so gern hätte glauben machen wollen. Denn viele Jungen, und nicht unserer Klasse, verehrten sie oder beteten sie gar an – im geheimen selbstverständlich. Und Bewunderer und Liebhaber, Verehrer und Anbeter muß sie auch später – da sie vollends aufgeblüht war – reichlich genug gehabt haben…

„Ich habe sie geliebt“, gesteht mir heute Heinrich Bernhardt, Vater dreier Söhne und Großvater dreier Enkelkinder. „Aber davon hat sie nie etwas erfahren“, fügt er leise hinzu, als ob er befürchte, Victoria könne unser Gespräch hören. Auch Leo Kufeld würde dasselbe bestätigen und dabei noch umfassend kommentieren, aber er schläft seinen ewigen Schlaf irgendwo bei Korkino, Gebiet Tscheljabinsk. Auch noch manche andere aus Neu-Galka und Pallassowka stammende Bauernburschen, die in den unheilvollen Jahren 1942-1947 als sowjetdeutsche Trudarmisten an den Ufern der Sewernaja Dwina bei Kotlas ihr frühes Grab gefunden haben, würden – wenn sie noch wären – offen gestehen, daß sie Victoria liebevoll zugetan waren und sie ins Herz geschlossen hatten.

Die Verse, die ich damals Victoria gewidmet hatte und die Konglomerat von Nachahmungen (lies: Plagiat!) aus Dichtwerken von Goethe und Schiller und besonders Heine aus sich darstellten, wurden mir 1943 im Lager an der Kama im Ural, wo wir Arbeitsfrontler Bauholz einschlugen, von meinen Ledensgenossen endlich doch wegstibitzt, wie methodisch ich sie auch von einem Platz zum anderen versteckte: Den Knaster trieben meine Kameraden dann und wann irgendwo auf, aber Papier gab es keines, es wurde dafür sogar das obere, fast durchsichtige wachsgelbe Häutchen der Kiefernrinde verwendet, was aber allmächtig übel roch. Als ich die Entwendung feststellen mußte, sagte ich mir im stillen: Auf Wiedersehen, Victoria!..

Habe ich da unlängst (aus zuverlässiger, sicherster Quelle!) erfahren müssen, daß Victoia kinderlos und allein ist. Daß sie noch immer allein war. Daß sie nie verheiratet war. Unbegreiflich. Widersinnig.

Ob das überhaupt denkbar ist? Ob das einzigartige beglückende Gefühl der Liebe, worin letzten Endes der Sinn des Lebens gipfelt, so gezügelt, so gebändigt werden kann? Ob ein außergewöhnliches, erschütterndes Erlebnis zur Verwirrung geführt hat? Ob es die Folge der Wirren und Unbilden unserer Leidensjahre sind? Ob es das Ergebnis der Wirrsale einer schutzlosen Seele ist? Ob es die Angst vor einer herben Enttäuschung sein konnte, die Victorias Erwartungen, Hoffnungen und Träume zerstörte? Ob, ob, ob…

Vielleicht hat sie Ausgleichung der Genugtuung in ihrem Beruf gefunden, in ihrer jahrzehntelangen pädagogischen Tätigkeit, ständig von lebensfrohen und lebenslustigen Studenten umgegeben, die sie ihr Alleinsein, ihre Einsamkeit vergessen lassen.

Wir können nur irgend etwas vermuten. Aber dieses für uns geheimnisvolle Irgend etwas weiß und ermißt und behütet Victoria in den tiefsten Winkeln ihrer Seele als Kleinod, als Erinnerung und Andenken an jene nur ihr allein bekannte und verständliche Zeit ihrer Sternstunden. Und an der noch glimmenden Glut der Reminiszens – am Kamin ihrer Jugendträume – erwärmt sie ihr gläubiges Herz; und es erhebt sich der Himmel ihrer Innenwelt, und die graublauen Fernen werden anemonen- und lichtblau, und es schmilzt das Eis der Befangenheit und der Beklemmung; und Victorias fernes, erlebnisreiches Gestern wird zu ihrem Heute, das ihre innere Ruhe und innere Befriedigung empfinden läßt.

Und dennoch, dennoch ist es schweigende innere Einsamkeit, die so manchmal bedrückend und beklemmend sein muß, aber auch ganz unverhofft oder, umgekehrt, heraufbeschworen, aufflammen und aufleuchten kann, wie eine in einem stillen Winkel des Gartens erblühende Rabatte im Juni als –
Versteinerte Blumen

Es brausen die Wogen des Lebens,
sie eilen ins Endlose hin…
Und war deine Müh nicht vergebens?
Worin, ach worin war ihr Sinn!
Im Trubel des Alltags vergessen
wir oft, was wir waren und sind…
Den Wert jeder Tat zu ermessen,
wohl niemanden vollends gelingt…
Erwartung und Hoffnung und Träume
sind Blumen auf unserem Weg.
Und wenn das Geschick sie versteinert –
kein Einwand ihr Ziel widerlegt:
Versteinerte Blumen sind Spuren,
daß einst sie geblüht und geprangt
auf sonnigen, wonnigen Fluren
der Zeit, die das Ihre verlangt.

                        1989