Lied vom Schnee

Wie genau der Kalender
uns Schnee prophezeit:
Anfang November –
und siehe, es schneit!
Er webt schon der Erde
ein weißwollnes Kleid.
Noch ein Flitterwöchner,
beständig er eilt.
damit auch im Winter
die Erde sich freut.

Er steppt eine Decke
aus Watte und Wolle
für die ruhende Steppe
und schüttelt die Betten
so schön wie Frau Holle
und summt ihr ein Lied:
„…und sei nicht benommen,
ich wiege dich ein
und werde dich wecken,
sobald es die Sonne
dann gut wieder meint!“

Ob früh oder spät,
ob Tag oder Nacht –
so gut es nur geht,
er das Feld überwacht:
Als Wölkchen am Himmel
er eben noch schwebt,
Minuten danach
er fleißig schon sät:
Und die Stimmung ist heiß,
und die Flocken sind weiß.

Er denkt an die Ernte,
er denkt an die Menschen,
die allmählich es lernten –
Kälte und Dürre
und schwankenden Willen
und Zweifel bezwingend –
die Felder bestellen
mit dem friedlichen Pflug,
mit Herz und mit Hand,
daß zur Erntezeit
der wogende Weizen
das Auge erfreurt
und mit Brot dann versorgt
das Heimatland…

Und ist’s nicht zu kalt
dort im schweigenden Wald?
Ob die Bäume nicht frieren
und den Mut nicht verlieren?..

Barhäuptig,
blauäugig,
wohlwollend lächelnd,
schenkt er, Wärme
             versprechend,
den schlummernden Bäumen
flockenbehangene
erdumspannende
Winternachtsträume –
die alles Lebende
ewig bewegende
uralte Sehnsucht
nach Sonne und Frühling,
da mit Dankgefühlen
sie aufs neue ergrünen…

Wie schnell am Kalender
die Blätter sich wenden!
Und es geht schon zu Ende
der kalte Dezember.
Und die Flitterwochen
des Schnees sind vorbei:
Denn die Winterfröste
klingen
      und krachen
            und pochen,
und noch fern ist der Mai.
Jedermann hat seine Pflicht,
seine Freuden und Sorgen,
will er dem Ruf
seines Herzens folgen.
Auch der Schnee,
wie ihr seht,
seine Berufung versteht.
Und er wird nun solide,
gesetzt und gediegen –
so wie es sich ziehmt.
Und er tut da sein Bestes –
noch besser als Gestern!
Aber nicht mit dem Zweck,
daß man später ihn rühmt –
allein mit dem Ziel,
daß üppig im Frühling
die Erde rings grünt…

              2.

Seit Jahrtausenden stöbert
zur Erde der Schnee…
Wenn es Schnee hat gegeben,
ist noch immer zufrieden
der Bauer gewesen.
Und er singt seine Lieder,
denn seit eh und je
ist der Schnee
ein Gehilfe
auf des Landmanns
Gefilden:
Je tiefer der Schnee,
desto höher der Klee.
Desto blauer der Himmel.
Desto heller die Stimme
der Freundschaft,
der Eintracht
und der Menschenliebe.
Desto stärker und fester
das Bollwerk des Friedens…

Und es sollen für immer
die Lieder verklingen,
die jahrhundertelang
vom Neuschnee wir singen?
O Menschen, o Brüder,
was bliebe uns dann?
Allein nur die Kälte
erdrückender Zwang!
Das darf es nicht geben,
solange wir Menschen
auf Erden hier leben!
Soll denn der Schnee
nicht mehr wehen,
der reine und weiße,
zu unserer Freude?
Soll er als radioaktives
Gemisch niedergehen
und Unheil rings stiften,
die Gärten vergiften,
das Allerbeste –
die Fluren und Felder,
die Wiesen und Wälder,
die saftigen Weiden,
das Meer von Getreide –
für immer verpesten?!

O wütender
tödlicher Haß!
Soll denn der Schnee
nicht mehr wirbeln
und nicht mehr wie früher
die Erde vor Stürmen
und Frösten beschirmen
und im Frühling
die Fluren tränken
und Leben spenden
mit seinem Naß?!!

Wird die Daunendecke –
der weiche Schnee –
ohne Gewissen
vom Körper der Erde
heruntergerissen,
so wird ihre Brust,
mit Raketen
und Dutzenden anderer
tausendfüßiger
Massenvernichtungswaffen
bis zum Rande gespickt,
ein einziges Weh!
Das darf sie nicht werden!
Um’s Sein oder Nichtsein,
O Menschen, es geht!

Was denkt ihr euch aus,
ihr Herren aus Übersee
dort im Weißen Haus,
die ihr doch sicher
eure Nächsten liebt?
Wollt ihr den weißen Schnee,
die Erde, den Himmel
mit den blinkenden Sternen –
alles und alles verwandeln
in ein nukleares Inferno,
wo es für niemanden
Rettung je gibt?
Auch eure Nächsten
fliegen heraus
aus den Stahlbetonbunkern
und verdunsten
in den gellenden Flammen,
im glühroten Äther
zusammen mit euch,
ihr Missetäter!

         ***
Schon wieder eilen
meine munteren Enkel
auf die Straße hinaus
und tummeln sich dort
im tiefen Schnee
nach Herzenslust:
Schnee,
sei gerühmt, sei gelobt!..
Doch Kummer bedrückt
mein Herz in der Brust,
wenn ich daran denke,
daran denken muß,
daß dieser Winterfreude,
daß diesem Kinderglück
ein jähes Ende droht.

O Menschen, seid wachsam,
damit das Massaker
eines tausendfachen
zerbombten Nagasakis,
dessen schwörende Wunden
heute noch klaffen,
und eines bestialisch
niedergebrannten Chatyns,
das als glühende Asche,
als mahnendes Wehklagen
bebt in den Lüften
der fünf Kontinente,
sich nie wiederholt!

1985