Lebensabend

Den Weg vom sonnenwarmen Tage
           hinüber in die kühle, dunkle Nacht
bezeichnete man einst als LEBENSABEND.
Ein guter Mensch
             hat dieses Wort sich ausgedacht:
Der Abend ist der Fortbestand des Tages.
Auch gegen Abend scheint ja noch die Sonne
(Im Osten ging sie auf
                   im Westen geht sie unter).
Und auch das Leben hat noch seinen Sinn
   und ist wie einst noch immer tatentrunken.
Gewiß, nicht alles wurde Wirklichkeit,
          was man sich einstmals vorgenommen,
nicht alle Träume gingen in Erfüllung,
doch vieles, ja, so vieles hat erreicht
                                 es immerhin.

Man greift auch heut
           noch zuversichtlich in die Saiten,
mit jeder Dissonanz,
                mit jedem Mißklang streitend,
und spielt,
   wenn auch nicht laut,
                  so manches schöne Abendlied
beherzt und unverzagt;
und Mut und Wille scheinen zu erstarken
(wie dort die grünen Zweige
     des Eichenbaums im alten Parke,
   die hell vom Abendsonnenschein bestrahlt),
wenn auf die jungen Sprößlinge es schaut,
die sich vor seinem würd’gen Alter
                 da ehrfurchtsvoll verneigen,
wenn vor dem innren Aug‘
        der fast vergang’ne Tag vorüberzieht.
Ein jeder weiß,
             daß seine Zeit
                      für jede Gegengabe
                              kurz befristet.
Drum ist es trotz des Abends
         immer noch bereit,
              zu helfen dort mit Rat und Tat,
wo unverhofft sich Zweifel eingenistet
           und namenloses, stilles Herzeleid.

1986