Dornige Wege

Tanja, Tatjana,
erinnerst du dich
noch an die Zeit,
           als wir beide
glückselig tanzten
und planschten im Licht
der Harmonie
         und Verheißung?

War es auch trübe
    und winterlich kalt,
glühten so rot
         deine Wangen…
Ach, und wir glaubten,
        daß keine Gewalt
unsere Trennung
             verlange…

Dann… kam das Leid.
Und wir wurden getrennt:
Willkür und Zwang
        sind allmächtig.
Wild wurde damals
    die Strafe verhängt:
Schuldig? Genug,
    wenn „verdächtig“!..

Tanja, Tatjana,
       wir haben uns nie
wiedergesehen
             im Leben…
Denn die Verkehrung
         und Disharmonie
wandeln
     auf dornigen Wegen.

                               1988

Die weiße Stadt

Es geht nach Wolsk
zu Doktor Boltz.
Die Wolga ist gefroren.
Das Eis ist weiß.
Mein Kopf ist heiß:
Es schmerzen meine Ohren.

„Bei diesem Schnee!..
Was tut denn weh?“
„Das Kind hat Ohrensausen.“
„Aus welchem Dorf?“
fragt Doktor Boltz.
„Wir kommen aus Schaffhausen.“

„Ein Elixier.
Wohl hilft es dir.
So trinke, kleiner Schlingel.“
Nach einer Stund
bin ich gesund…
„Ein Wunderarzt, o Himmel!..“

Die weiße Stadt…
die schönste Stadt…
die erste Stadt im Leben!
Wenn nie man das
gesehen hat!..
Mein Herz beginnt zu beben!

Ein Häuserwald
allüberall!
Und Straßen ohne Ende!
Und dort am Berg
ein Riesenwerk!
Und Schockmillionen Menschen!

Der Heidenlärm das Herz mir wärmt.
Und staunen, staunen muß ich!
Versteh zwar nicht,
was man da spricht –
sie plaudern alle russisch!..

Wir kaufen ein.
„Das ist ja fein!
Da dürfen alle schmausen!
Der Vater meint:
„Drum geht’s jetzt heim,
hinüber nach Schaffhausen!“

                                    1988

Wärmegewitter

Sie faucht,
         ganz erhitzt:
„Die Backröhre raucht!
   Siehste es nicht?!“
Darauf tut
           Violetta
einen tüchtigen Zug
aus der Qualmzigarette
und drückt
          sie dann aus
und wirft sie hinaus
aus der Küche –
  mitsamt ihrem Fritz:
Ein gewöhnliches
häusliches
        Wärmegewitter.

                         1988

(An)Ordnung

„Hast schon wieder
           Lampenfieber?
Brauchst die Lippen
      nicht zu schürzen.
Los nur Männe, los!
Reib die Löffel
       und die Schüsseln
und die Kessel,
      bis sie blitzen…
Siehste! Schön! So-so!..
Ordnung in der Küche
schreib ich immer groß!“

                             1988

Das Erdenrund ist klein!

Die Winde eilen, jagen
in atemloser Hast
voran ins Ungewisse.
Sie lieben es zu wagen.
Sie wissen nichts von Last,
verachten die Geduld
und fühlen keine Schuld:
Sie müssen blasen. Müssen!

Sonst sind sie keine Winde,
die Schnee und Regen bringen,
um zu sich selbst zu finden.
Drum säuseln sie und singen
bei Tag und Nacht ihr Lied,
das durch die Weiten zieht
als Wärme und als Trost,
als Heil und schweres Los:

Wir sind die frischen Winde,
bereit zu jeder Zeit!
Wir wehen und verbinden,
was war und ist und bleibt.
Wir wehen und wir mahnen:
Das Erdenrund ist klein!
Drum sät, o sät den Samen
des Guten nur allein!

                                1988

Die Ruhe des Gewissens

Die Tage der Verheißung werden kürzer.
Geblieben ist dir nur ein Stückchen Weg.
Bis an den Rand, wo in die Tiefe stürzen
all die Erwartungen, die du gehegt.

Es ging so mancher Wunschtraum
                          in die Brüche.
Ob du den hohen Einsatz
                       selber je gewagt?
Noch gärt in dir die Pein
                der tiefen Widersprüche.
Ob du das rechte Wort
       am rechten Ort
           auch immer laut genug gesagt?

Es gab so manches schwere Ungewitter
        in jener Zeit, die du durchlebt.
Doch nicht nur du allein –
        Millionen haben schwer gelitten.
Ob ihre großen Qualen
                und ihre schweren Sorgen
auch dir sich auf die Seele
                    immer schwer gelegt?

Die Welt ist ach so bunt,
               und kunterbunt das Leben,
und vieles bleibt umstritten
auch dann, wenn wir mal nicht mehr sind.
Und wenn es heute uns gelingt,
auch nur ein bißchen Gutes
beizusteuern
           für das ersehnte frohe Morgen
all derer,
        die das Jahr Zweitausend feiern,
so haben wir verdient im Wirbelwind
          der schicksalsschweren Jahre –
auch wenn wir längst im kühlen Grabe –
die Ruhe des Gewissens.

1987

Der Augenschmaus

Willi Wilhelm will im Winter,
wo der Wald ja tiefverschneit,
Beeren sammeln dort und Pilze
für die heiße Sommerzeit.

Holt er sich vom Boden droben
einen großen Weidenkorb.
Hofft, es würde ihn dann loben,
wenn er kommt, das ganze Dorf.

Und im warmen Wintermantel
eilt er in den Wald hinaus.
Und es lächeln die Gedanken:
Oh, das gibt ’nen Augenschmaus!..

Bravo, Willi! Dort, wo’s Willen
und ein Stück Erfindung gibt,
wird sich sicher das erfüllen,
was der Spinner spinnt und liebt.

                                     1988

Rabeneltern

Du kleines Wurm!
Wer hat dich nur geboren?!
Ein Wirbelsturm,
der keine Sorgen kennt?
Ein Rummelplatz,
der dreist und unverfroren?
Ein Hurenhaus,
dem Scham und Schande fremd?

Es gibt sie doch –
die Mutter und den Vater,
die im voraus
verstümmelt dein Geschick,
die dich o armes Kind,
so frech verraten,
noch ehe du
das Licht der Welt erblickt.

Die Strafe bleibt nicht aus,
sie wird sie finden.
Begangne Frevel
drücken bergeschwer:
Wenn alt die Rabeneltern sind
und ohne Kinder,
so zehrt die Schuld
an ihnen um so mehr.

                                  1988

Die Narbe

Es war ja nur ein Flirt.
Doch hat er mich verwirrt.
Denn deiner Augen Sonnen
hat mir die Ruh genommen…

Der Blütenschnee vergeht
und haucht: O Gott, zu spät!
Im Herzen brennt die Narbe –
der braunen Augen Farbe…

1988

WTR

„Guten Morgen, Herr Professor!
Geht es ihnen heute besser?“
„Danke! Tja… die Wissenschaft
hat mich auf den Hund gebracht“,
flüstert er besonnen.
„Klingt wie Spott und Hohn:
Hab so manches ausgedacht…
Nichts davon ist übernommen
in die Produktion.
Tja… es sei zu kompliziert,
und es gäbe auch dafür
keine Gelder… Nicht kapiert?
Es verschlucke angstverzerrt
jeden Happen heut die WTR.“

                                  1988