Der weiße Traum
„Es ist mein einziges Begehr:
Wenn ich ein weißer Rabe wär´!
Es würde mich die halbe Welt,
ach wo! – die ganze gar bewundern.
Dann wäre ich bestimmt ein Held,
ein weißes zwar, doch blaues Wunder.
Man würde Sympathie bekunden:
‚Da kommt das Wunder angesegelt,
das Unikum, der weiße Rabe!..‘
Wer hat die Farbenwelt geregelt?
Ach, dreimal schade, schade, schade,
daß ich pechschwarze Federn habe,
daß mich stahlschwarze Flügel tragen!
Wo könnte ich mich nur beklagen?
Wer hilft mir da? Wer färbt mich um?..“
Die Farbenskala schweigt wie stumm:
Der Traum, den träumt das „Unikum“,
ist ziemlich sinnlos, wenn nicht dumm…
Noch gut der schwarze Rabe tut,
wenn er nicht träumt von weißem Blut;
noch klug der schwarze Rabe ist,
wenn er den weißen Traum vergißt.
Denn schwarz der schwarze Rabe bleibt,
weil er sich eben Rabe schreibt.
Das weiße Blatt
„Ich bin ein schlankes weißes Blatt
und bin bis heute noch unbeschrieben.
Wie schön es manches Blättchen hat!
Und ich muss weiß und leer mich fügen.
Ich bin des grauen Weißseins satt-
möcht´ in die blaue Ferne fliegen…“
„Sei hoffnungsvoll und unverzagt.
Wozu, mein Kind, die große Eile?
Es kommt die Zeit, es kommt der Tag –
ein Prinz wird sich in dich verlieben
und farbenfreudig dich beschreiben…
Doch gibt es leider auch noch Sünden:
Vergessen, mußt allein du bleiben,
bis er dich – reuig – wiederfindet.
Schon graumeliert, wird er dich suchen
und die Vergessenheit verfluchen.
Dann drückt der Prinz dich an die Brust,
daß du in Lieb‘ vergehen mußt…
Ein weißes Blättchen war auch ich.
Nun bange ich mich fürchterlich:
Beschrieben, kann man auch vergilben.
Es kann der Wandel mit der Zeit
dir alles durcheinanderwirbeln.
Noch gut, wenn dir die Hoffnung bleibt.“
Weiße Nächte
Bei Sonnenuntergang beginnt
die Zeit, die wir als Nacht bezeichnen.
Die einen sie ganz lyrisch stimmt,
den andern sie ihr Los erleichtert.
Gewöhnlich sind die Nächte dunkel,
bis gräulichweiß der Morgen graut.
Am Himmel blau die Sterne funkeln –
ein Bild, womit wir gut vertraut.
Auf ihre weichen, dunklen Schatten
die Müden und Verliebten warten:
In ihren Träumen lauschen sie
der schönen Zukunft Melodie…
Doch gibt es auch noch weiße Nächte,
und schleierweiß sind ihre Stunden.
Wer sollte, dürfte, könnte, möchte
ihr weißes Blauweiß nicht bewundern!..
Ich war noch nie in Leningrad
Und hab das Nachtweiß nie gesehen.
mein Freund, er stammt aus jener Stadt, –
er meint, es sei fast ein Vergehen,
daß Leningrad ich nie bereist,
das die Blockade überstanden,
um vor dem lichten Heiligweiß
den Hut zu ziehn am Newastrande.
1984
