Lied vom Herbst

So vieles hat erlebt, so vieles weiß
     der Wirbelsturm der Zeitlichkeit…
Und ist die Welt, die dich umgibt,
      die Welt, in die du heiß verliebt,
auch noch so farbenreich und schön,
           so manchmal deine Seele sehnt
        sich trotzdem nach Geborgenheit,
um dort allein, mit sich allein,
                in ihren stillen Winkeln
es wieder zu versuchen,
                  im aufgeklappten Buche
des langen Weges
              den Sinn des kurzen Seins,
den Lebenszweck, sein Vorwärtsstreben
              im stillen zu ergründen…

              * * *
Es setzt der frische Abendwind
                           gewandt
                           den Bogen an:
Und leise, leise singt
                   und seufzt und stöhnt
des Herbstes Zaubercello
                  in seinem weichen Tief
(und dennoch hoch genug gestimmt!)
            für dich sein Abschiedslied,
damit die Farbentöne –
                  ob dunkel oder hell -,
die all es gab und gibt
                    in deiner Innenwelt,
sich mit dem Schicksalsweg versöhnend,
für dich aufs neue, wiederholt erklingen
     als klarer Klang der kühlen Quelle.

               * * *
Es eilt die Zeit,
              sie treibt, sie peitscht –
wie sie´s allein, allein nur kann –
    den Herbst, den herben Herbst voran.
Und an die Küste
             deiner bangen Abendstimmung
(Als ob du wüßtest,
                Herz, woher sie kommen!)
branden leidenschaftlich nun die Wellen
der Grunderlebnisse und Augenblicke,
             die dir geschenkt für immer
dein Frühling und dein Sommer.

               * * *
Und wieder ertönen –
               bald rauh und grau,
                    bald sanft und weich
(Wie aus dem bunten Märchenreich!) –
                    die mahnenden Saiten
des herbstlichen Cellos…
Und Leid und Freude
              (Du kennst sie ja beide!),
      die ihrer Tränen
                       nie sich schämen,
und all dein Hoffen,
                     und all dein Sehnen
aus fernen Weiten
           und längst vergangnen Zeiten,
zutiefst dein Herz ergreifend,
aufs neue erklingen,
                  als sei es dein Heute.

                 * * *
Ob Pfingstrosen du
            allein nur dazu
               gepflückt und geschnitten
in aller Ruh
           im blühenden Garten
                      des ewigen Lebens,
um die leeren Räume
                 deiner lechzenden Seele
mit Blütenträumen,
               die deiner
                    lange schon harrten,
zu zieren und schmücken?
                      Um dich zu erfreuen
am prangenden Rot ihres Feuers?
Um dich zu erquicken
              an der köstlichen Frische?
Um dich selbst zu belohnen
                        mit ihrem Aroma?

                * * *
Ob wirklich auch viel du gelitten –
ach nein, nicht für dich!
          So meinen die Klänge es nicht.
Für das Wohl deiner Nächsten!
Die sich sehnten und sehnen
                   nach Wärme und Licht.
Ob du sie getröstet
in den Stunden der tiefen Verzweiflung,
damit auch ihre Hoffnungsträume reiften.
Und ob du auch wirklich versucht,
                  mit deinem heißen Blut
ein kommendes Unheil,
                      das ihnen gedroht,
zu verhindern,
   den Kummer, den schweren, zu lindern
                     und ohne zu warten
auf Dank und auf Lob…
Und deine Nächsten sind alle –
     hier und dort in der weiten Welt -,
die unter Unrecht und Willkür gelitten,
                 die als Opfer gefallen,
und alle, die heute noch leiden,
                sich zu retten versuchen
und deren Hilferufe
   in der Wüste der Lauheit verhallen…
Und du weißt, oh, du weißt:
Es stehen auch heut
               die Augen der Zeit
                          voller Tränen.

               * * *
Die Saiten des Cellos ertönen
                   bald dunkel und tief,
bald hell und bald weich:
        Ein Herbstlied, ein inniges Lied
der Töne und Farben,
                 der dumpfen und warmen,
der ewigen Frage,
              der ewigen, lästigen Plage:
Wozu du gewirkt und gewebt,
             wozu du geliebt und gelebt.
Ein Lied von Freude und Leid
               deiner zweifelnden Seele,
die willens,
sich selbst, ja sich selbst zu zerquälen
noch oft in der Stille
             der inneren Waldeinsamkeit.

1986