Die Bäume stehen schon entlaubt.
Allein ein grünes Blättchen bebt
an einem kahlen Ast und glaubt,
es habe glücklich überlebt
die letzte Blätterkatastrophe,
und hofft, daß nach der Winterzeit
es dann als erster Frühlingsbote
die Welt mit seinem Grün erfreut…
***
Ein leiser Windhauch kommt und reißt
auch dieses Blatt von seinem Zweig.
Und taumelnd sinkt es langsam nieder
und zittert noch an allen Gliedern,
nimmt Abschied von dem grünen Traum.
Dann liegt es stumm am Waldessaum.
Es hat geharrt, gehofft, geträumt
und nie die bunte Welt verneint…
***
Wie trübe wär‘ mein Weg,
wenn ich nicht hoffen würde.
Ich grolle nicht.
Und trage meine Bürde,
die ich mir selber auferlegt.
Und jede Jahreszeit,
die jeweils waltet, –
sie bringt mir Freud und Leid.
Und jedes Alter –
ach, es weiß, es weiß,
was Sonnenlicht
und Dunkelheit
in seinem Vorwortseilen heißt.
Ob Frühling oder Herbst,
ob Sommer oder Winter.
***
Und jede Jahreszeit
ist mein und dein.
Aus ihren klaren Quellen
schöpfen wir und trinken
so oft den Lebenssaft
der Brüderschaft,
so oft den herben Wermutwein
der Zuversicht.
***
Und jeder, jeder geht
(gewiß, auf seine Art!)
den gleichen Weg –
vom Morgen bis zum Abend.
Und jeden hellen Tag,
der uns erfreut,
und jede lichte Stunde,
die lange im Gedächtnis bleibt,
und jenen warmen Blick,
der gestern dich gestreift,
und jene Dankbarkeit,
die heute du empfunden,
und jede milde Gegengabe
verdanken wir dem Sonnenschein
der wahren Menschlichkeit
der Gutgesinnten,
der schlichten, edlen Würde
jener Menschenherzen,
die trotz der eignen Schmerzen –
für uns! – im Gleichtakt schlagen.
***
Ob grün das Birkenlaub,
ob welk und gelb,
ob Stürme durch die Steppen jagen,
ob schneeverweht die halbe Welt –
mein Herz ist nimmer mißgestimmt,
weil es seit je vertraut der
Widersprüchlichkeit
der Sommers- und der Winterszeit…
Das Gestern und das Heute,
das hoffnungsvolle Morgen
der bunten Jahreszeiten
und ihre reichen Gaben
sind unser aller Lebensquell,
den zu erhalten wir und zu behüten
nur dann imstande sind,
wenn für den Frieden
hier auf Erden
wir täglich sorgen.
***
Novembernordwestwind.
Er weht und weht.
Und auf dem Kopf der Himmel steht.
Und neunundneunzig Wolken
lächeln glücklich,
die grauen Augen
voller Freudentränen:
Kein Abschied! Frohes Wiedersehn!
Und weiche Flocken
eilen zuversichtlich
auf die Fluren nieder
wie Chrysanthemen
strahlig, blütenweiß und -schön:
O Zauberwelt im weißen Kleid!..
Der junge Winter singt
da eines seiner schönsten Lieder.
Und meine Seele trinkt
nun einen Schluck Begeisterung
voll Andacht und Ergriffenheit.
***
Der Winter dankt mit tiefem Schnee
der müden Erde für die Mühe.
Er wiegt sie ein, er deckt sie zu:
„Träum deinen Traum in tiefer Ruh,
damit zur schönen Frühlingszeit
dann deine Fluren weit und breit –
wie eh und je! –
ergrünen und erblühen'“
***
Ein nimmer endendes
Entstehen-und-Verwehen,
ein Blühen-und-Verwelken,
ein Helfen-und-Vergelten,
ein Immer-wieder-Kommen,
ein Immer-neues-Werden,
ein ewig junges Sein
auf der berückend schönen
und leidgeprüften Erde,
solang die goldne Sonne
so warm und innig scheint.
***
Lerne, Menschenseele, zu bestaunen die
Schönheit und Erhabenheit
der Welt zu jeder Jahreszeit:
So zieh den Hut – es grüßen dich
der weiße Schnee, das Sternenlicht,
der Fröste heller Widerhall.
***
Und bilde dir nicht ein,
ein Übermensch, ein Gott zu sein,
das Recht zu haben, überall
zu schalten und zu walten,
heraus aus deinen Launen
das Erdenreich zu formen.
Und mach dir lieber Sorgen,
um alles Schöne
auf der Erde zu erhalten:
Statt nehmen –
lieber geben!
Vergiß,
o Menschenseele, nicht –
auch du bist nur
ein Teilchen der Natur.
***
Als Mensch,
als Homo sapiens
erhebe dich zu deiner Größe!
Und die Gefühle, den Verstand –
setzt ein sie immer wieder
für Freiheit und Gerechtigkeit
zum Wohle deiner Erdenbrüder,
zum Wohle aller Menschen.
Dass rote Nelken blühen im Dezember.
Und neuschneeweiße Chrysanthemen.
Und flammenblaue Hyazinthen.
Und die gütige Erde – sie reicht
dir hilfsbereit
zu jeder Jahreszeit
die Hand.
Ob Frühling oder Herbst,
ob Sommer oder Winter.
1986
