Irenchen spielt im Kinderzimmer. Sie deklamiert gerade ein Gedichtchen, das ihr Oma Linda beigebracht haben mag: Der Wauwau fängt an: („Wau-wau! Wau-wau“!) Die Miezekatze dann: „Miau! Miau!“ Dabei dramatisiert sie die Situation, indem sie bei „Wau-wau“ bemüht ist, die Zähne zu fletschen und bei „Miau“ versucht, den Rücken zu krümmen, was ihr leichter und besser zu gelingen scheint.
Da kommt Bernhard nach Hause. Helene empfängt ihn mit den Wörtern: „Hörst du, Bernhard, dein Engelchen, dein Irenchen-Schönchen plaudert heute schon den ganzen Tag deutsch. Sie ist in Stimmung.“ Irenchen kommt an Bernhard zugestürmt, der sie auf den Arm nimmt und sie an sich drückt. „Ich in Stimmung! Ich in Stimmung!“ streichelt sie ihm die Wangen. „Ich bin in Stimmung, bin“, verbessert er. Sie läßt sich herunterrutschen, saust im Vorzimmer hin und her und singt: „Bin, bin, bin! Kling, kling, kling!“ – „Und jetzt lässt du deinen Papa erst mal essen, Schätzchen“, will Helene sie beschwichtigen und sie auf ihren Schoß nehmen. Da beginnt im Schlafzimmer das kleine „Bärchen“ (also auch Bernhard!) mit seinem dünnen Stimmchen zu quäcken. „’s Bärchen greint! ’s Bärchen greint!“ – „Weint“, verbessert jetzt ihre Mutter und eilt ins Schlafzimmer. „Aber Oma Linda hat heute gesagt: „’s Bärchen greint“, ruft Irenchen ihr nach. Und plötzlich, als ob sie sich an etwas besonders Wichtiges erinnert hätte, philosophiert sie, mit dem Zeigefinger der Rechten den Takt angebend: „Kleine Kinder – kleine Sorgen, große Kinder – große Sorgen. ’s Bärchen – kleine Sorgen, und ich – große Sorgen, ja, Papa?“ – „Gewiss, gewiss, du bist ja schon groß, aber das mit den Sorgen…“ Irgendwarum spricht Bernhard den begonnen Satz nicht zu Ende. Auch dieses Sprichwort muss sie von Oma Linda gehört haben. Und hinsichtlich der Sprüche könnte Irenchen der Großmutter nachgeraten sein. Könnte…
Jetzt klettert sie auf Bernhards Schoß und rückt ihm bald den einen, bald den anderen Teller näher: „Ich dein Engelchen, ja, Papa?“ Ich dein Goldchen, ja, Papa? Ich dein Irenchen-Schönchen, ja, Papa?“ sprudeln die Worte nur so heraus. „Jawohl, Irenchen, aber bin.“ – „Jawohl! Bin, bin, bin – kling, kling, kling! Ich habe dich gern, Papa! Ich habe dich so-o gern! Wie Oma und Opa, wie Babuschka und Deduschka! Wie Mama! Ich habe dich so-o, so-o gern! Und dabei streckt sie die Ärmchen weit aus, um auf diese Weise ihre große Liebe zu veranschaulichen. Bernhard räuspert sich, denn ein tiefes beglückendes Gefühl wallt in ihm auf, und er drückt Irenchen an sein Herz, streichelt und liebkost sie… Da kommt Oma Linda mit etwas roten Augen in die Küche, sagt zu Bernhard, er solle auf die Kinder aufpassen, sie müsse mit Helene noch ins Warenhaus eilen, dort sei japanische gemusterte Seide eingetroffen. Irenchen wird aber nicht mitgenommen, wenn sie auch etwas schmollt und die Lippen zum Weinen verzieht…
Ein Familienidyll von heute? Nein, das wohl nicht. Eine junge Familie, die kaum zwei Jahre besteht (wenn Irenchen auch schon bald fünf Jahre alt wird; aber darüber etwas später). Eine Familie mit all ihren Freuden und Sorgen, mit allem Drum und Dran. Und noch ein bißchen obendrein. Mit ethischen und Alltagsproblemen, die sich von selbst lösen oder auch ihrer Entwirrung lange genug harren müssen. Und leider auch mit Wunden, die zwar allmählich vernarben oder zum Teil schon vernarbt sind, aber dennoch dann und wann zu schmerzen beginnen, wenn am Himmel der Seele Gewitterwolken heraufziehen.
Junge Leute… Sie dürfen auch einmal über den Strang hauen, denn sie sind eben jung. Sie dürfen sich manchmal auch irren, denn irren ist menschlich. Und die Erfahrung kommt erst mit den Jahren und die Weisheit gewöhnlich zu spät. Auch auf den Holzweg kann man geraten. Und da ist guter Rat teuer. Denn der Holzweg kann ins Dickicht führen oder gar in einen Sumpf. Und im Sumpf kann man steckenbleiben, wenn sich nebenan keine guten Menschen befinden, die einem noch rechtzeitig die Hand reichen…
Irenchen ist, genau genommen, mehr ein Irinchen, denn dem Geburtsschein nach trägt sie den Namen ihrer Babuschka Irina, Irina Petrowna Michailowa. Und Irinchen war ein Frühchen, ein Siebenmonatskind, was heute zwar nur selten erwähnt wird, und da meistens nur gedanklich. Und die Sorgen um das Frühchen lagen nun mal mehr auf den Schultern von Irina Petrowna als auf denen von Jelena, ihrer Tochter, die das Kind eben zu früh – zu früh nicht nur im biologischen Sinne, sondern in jeder Hinsicht – zur Welt gebracht hatte. Und das mit dem Kummer und den Sorgen ist so eine Sache – wie man’s nimmt.
Denn die seelischen Qualen, die Helene, wie man sie im Fremdspracheninstitut schon nannte und wie sie jetzt liebevoll bei Millers genannt wird, damals ertragen musste und die sie auch heute noch so manchmal zusammenzucken lassen, waren wohl nicht leichter zu überwinden als all die Unannehmlichkeiten, die Scherereien und Anstrengungen, die aufgeboten werden mussten, um das Frühchen, das Kleinchen, das winzige Krümelchen Leben am Leben zu erhalten und es aufzupäppeln. Aber die Mühen und Sorgen des Alltags halfen auch Helene, das Syndrom der Schuld allmählich zu überwinden und die Konflikte der empfindsamen Seele, die ihre Enttäuschung nicht loswerden konnte, zu entschärfen. Doch wenn sie allein mit ihrem trostlosen Seelenkummer blieb, wo der beklemmende, düstere Gedanke, waltete, alles, alles sei nun passe, dann war es schlimm genug…
Nicht immer edel klingen die Töne, und nicht immer wird edelmütig gehandelt in Situationen, die irgendwie mit der Studentenherberge „Edelweiß“ verbunden sind, die sich weit droben in den Bergen des Trans-Ili-Alatau, fast eine Stunde höher als das berühmte Bergeisstadion „Medeo“ versteckt hat und wie ein Idyll, wie eine Stätte der Unschuld und der Lauterkeit anmutet, wo alles ringsum Urwüchsigkeit und Unberührtheit zu atmen scheint – das Gestein und Gefels, die Gipfel und Kuppen, die Klüfte und Schluchten, die bis in den Himmel ragenden Edeltannen und die jungfräuliche Stille.
Und hier, in einem verborgenen Winkel der Mutter Natur, den weder die menschliche Vernunft noch der alles sehende liebe Gott zu überwachen vermochten, hatte sich Helene, liebestrunken, im Vorgefühl des vom blauen Junihimmel herabstrahlenden Glückes am ganzen Leibe zitternd, das ihr die Kehle zusammenschnürte und ihr dürstendes Herz hoch und höher schlagen ließ, dem ritterlichen, schlanken und stattlich gebauten Aspiranten Gerhard Müller in die Arme geworfen. Vergessen war die ganze große Welt! Und sie schwebten – zu zweit! – auf den Flügeln der Seligkeit hinaus in das blaue, uferlose Märchenland Liebe, wo es kein Wenn und kein Aber, keine trüben Wolken und keinerlei Kümmernisse gibt, sondern nur Sonne und Wonne und Freude und Glückseligkeit…
Nach der großen Sternstunde, die ganze Stunden gedauert haben mag, matt und müde von seelischer und physischer Spannung und Erregung, schlummerte Helene langsam ein. Und es träumte ihr, sie wandle über die grüne Hänge des Kok-Tjube, und überall blühten üppig die Irisblumen, die Schwertlilien mit ihren farbenprächtigen, von isabellengelben und leisblauen bis dunkelvioletten Blüten. Und die blühenden Schwertlilien wurden immer höher und höher, erst kniehoch, dann sogar mannshoch, und auf einmal sah sie und fühlte sie, dass sie selbst eine aufgeblühte Schwertlilie war – mit taubehangenen Blütenkelchen und mit ihren zarten Blütenblättern in jener Richtung winkten, woher sich aus den weißen Lämmerwölkchen ein in blendendes Weiß gekleideter Ritter auf einem weißen Apfelschimmel herunterließ, aus dem silberbeschlagenen Sattel mit silberglänzenden Steigbügeln stieg, ihr (gerade ihr und keiner anderer) entgegeneilte, vor ihr niederkniete, sie anbetete, sie dann sanft und behutsam auf die Arme nahm, sie hin zu dem stampfenden und schnaubenden Ross trug, sich mit ihr in den Sattel schwang und in die blauen Lüfte hinaufstieg, wie auf Flügeln in den lichten und unendlichen Äther dahinschwebte. Aber dann – o Gott! – stießen sie gegen eine Bergkuppe, und sie, die glückselige Schwertlilie, stürzte in eine abgrundtiefe Schlucht hinab…
Aus diesem merkwürdigen Traum erwacht, zitterte sie noch vor Angst und schöpfte erleichtert Luft, als sie Gerhard ruhig und tief atmend neben sich schlafen sah, Ach, was! Träume sind Schäume!
Doch Helenes große Sternstunde dauerte nicht lange und glich jenem Flug in jenem Traum. Denn in Gerhard hielten sich die Ritterlichkeit und Frechheit die Waage. Und schon am nächsten Tage auf dem Heimweg redete er mit unverholenem Zynismus Helene ins Gewissen, sie solle das Geschehene nüchtern betrachten und hinnehmen, wie es eben war, sie solle sich nicht an Illusionen klammern, sie solle sich keine Luftschlösser bauen.
Gewiss, sie sei eine hübsche, eine nette, eine begerenswerte Erscheinung, und er habe nichts dagegen, sich noch öfter mit ihr zu treffen, aber heiraten könne er sie nicht und sie solle, falls sie von einem anderen Glück träume, es sich woanders suchen. Sein Kredo, sein Leitsatz sei die freie Liebe, und überhaupt, er müsse seine Dissertation zu Ende bringen und sie dann selbstverständlich auch verteidigen, und das könne Liebesverhältnisse mit Damen höheren Grades voraussetzen…
Dann, etwa nach vier Monaten, kam es zu dieser erzwungenen Ehe, zu diesem Flickwerk. War es nun ein Anflug von Liebe, was ja nicht ausgeschlossen war, ober war es eine leise Spur von Reue, was auch möglich sein konnte, oder war es die feige Angst, es könne zu einem Skandal kommen, was seiner Karriere schaden könnte, – wie dem auch sei, Gerhard Müller war in eigener Person zu Helene und ihren Eltern gekommen, die in einem Eigenheim wohnten, das wie ein Schwalbennest an einem Abhang des Kok-Tjube hing, und hatte um Helenes Hand gebeten. Georgi Iwanowitsch war dagegen, Irina Petrowna, zwar vor Haß zitternd, war dafür, und Helene wollte ihrem zukünftigen Kinde den Vater erretten und die zugefügte Erniedrigung und Herabwürdigung vergessen. Und so wurde Helene nun eine „Müllerin“. Und sie „lebten“ jetzt zusammen und wohnten bei Helenes Eltern. Gerhard ließ sich nach der stillen Hochzeit ohne Gäste nur selten sehen, und nach einem Monat war er spurlos verschwunden.
Auch Helene hatte das Studium aufgegeben. Als ob das in ihrer Lage und in ihrem Seelenzustand noch von Bedeutung wäre, hatte sie der Mutter geantwortet, deren Herz gleichfalls blutete und die, wenn ihre Nerven versagten, ihre Tochter beschuldigte, dass sie ihr Schicksal mit einem Deutschen verbunden hätte, wo ein Russe sie nie so herabgewürdigt hätte. Aber wenn Georgi Iwanowitsch zufällig hörte, dass seine Petrowna solche und ähnliche verzweifelte Ausfälle machte, versuchte er ihr klarzustellen, da es bei allen Völkern noch immer Taugenichtse und Schurken gegeben habe. Der Hund läge woanders begraben. Es sei die Zügellosigkeit, die man heutzutage den jungen Leuten erlaube.
Und als Irinotschka nun einmal da war, übernahm er ohne zu murren die Pflichten des Großvaters und auch des Vaters, der sich aus dem Staube gemacht hatte und irgendwo seine Dissertation zu Ende schrieb oder auch zu verteidigen gedachte und wahrscheinlich auch die Dame seines Herzens gefunden habe müsste, die unbedingt einen akademischen Grad hatte…
„Bernhard“, rang Frau Linda verzweifelt die Hände, „mein Sohn, du unser einziger Sohn und unsere einzige Stütze, warum bist denn so niedergeschlagen? Wenn ich dir zugucke, will mir das Herz im Leibe zerreißen. Musste dich denn jetzt aufopfern? Das hättste dir gleich vorstellen können. Die hat doch noch immer die Nase über dich gerümpft, weil du bloß ein einfacher Bauarbeiter wie dein Vater bist. Jetzt musste dich zusammennehmen. Und ein gutes Mädchen wirste schon finden. Karaganda ist groß, und auch anderswo gibt’s bestimmt gute und ehrliche Mädchen.“
Peter Miller sprach mit seinem Sohn in einem anderen Ton, aber dem Sinne nach war es dasselbe: „Du bist doch ein Mann, Bernhard! Du bist doch ein Miller, Bernhard! Die Wilmers Monika ist es auch gar nicht wert, dass man der nachtrauert. Die hätt‘ dich doch bei der ersten Gelegenheit im Stich gelassen. Ich kenne die Wilmers. Sollen die drüben reich werden, meinetwegen steinreich. Und wir bleiben, wo wir sind. Und ich glaube, Bernhard, dass wir bald wieder an die Wolga zurückziehen, wo unsere wirkliche Heimat ist und wo wir wie früher werden unsere Sprache und Kultur hegen und pflegen können. Und eine Frau für dich und eine Schwiegertochter für uns wirste noch finden.“
In Monika war Bernhard noch als Schuljunge verliebt. Und sie war ja auch bildschön. Und warum sollte er sich nicht in ein so aufgewecktes, hübsches und blühendes Mädchen verlieben? Gegenliebe? Bernhard schien es, sie empfunden zu haben. Auch heute glaubt er manchmal noch, sie hätte ihn gern gehabt. Doch gesiegt hat in ihr nicht die Liebe, sondern die kühle, raffinierte Berechnung.
Kurz bevor die Wilmers um das Ausreisevisum zu wirken begannen, kam Monika, die bis dahin immer irgendwelche Gründe gefunden hatte, um Bernhard zu überzeugen, die Heirat müsste noch zurückgeschoben werden, zu Millers ins Haus und erklärte kurz und bündig in Anwesenheit Bernhards selbst und seiner Eltern, sie wäre bereit, so schnell wie möglich zu heiraten, wenn… wenn Bernhard ihr sein Ehrenwort gibt, mit ihnen, den Wilmers, nach Westdeutschland auszuwandern. Später könnten sie auch Bernhards Eltern kommen lassen, was dann eine Kleinigkeit sei, und sie wären dann alle drüben in der freien Welt.
Kurz danach heiratete Monika Lipphardts Heinrich, der mit den Wilmers auch ausgewandert ist. Denn Bernhard hatte sich eindeutig und kategorisch losgesagt, die Heimat zu verlassen. Und sie zu überreden, ihn zu heiraten und hier zu bleiben, war verlorene Liebesmüh. Und seine Monika hatte ihn im Stich gelassen, was ihn bitter quälte und was er zwar nicht als Landesverrat qualifizierte, aber als Verrat an ihm, ihrem Jugendfreund, empfand…
Eines Abends kam Frau Linda, die in der Schule nebenan als Raumpflegerin arbeitete, nach Hause und erzählte Bernhard, sie hätten in diesem Schuljahr eine neue Deutschlehrerin bekommen, und es müsste wohl eine Deutsche sein, weil ihr Familienname auch Miller sei. Zwar sprächen die Schüler sie mit „Jelena Georgiewna“ an, aber sie sei wahrscheinlich eine Helene. Und das „Miller“ klinge bei ihr – Frau Linda hatte sich mit ihr schon einige Male unterhalten – zwar wie „Müller“, aber das käme wohl daher, weil sie so schön hochdeutsch spräche.
Ein anderes Mal begann sie wieder über die Deutschlehrerin zu erzählen. Sie sei ein so sympathisches, bescheidenes Mädchen mit so wunderschönen großen blauen, gutmütigen und sanften Augen. Und aus diesen Augen strahle Mitleid und Güte. Nur sei darin auch eine Art erloschene Glut zu bemerken und so etwas wie Einsamkeit oder namenloses Leid zu lesen.
Und wieder ein anderes Mal überraschte sie Bernhard, sie hätte bei Helene Georgiewna vorgesprochen. Ihr Sohn, ihr Bernhard, sei ja seinerzeit ein guter Schüler gewesen, aber seine Muttersprache spräche er nur mit Müh und Not, und da in einer wolgadeutschen Mundart, reichlich mit russischen Wörtern und ganzen Ausdrücken gespickt. Und da er nun mal ein Deutscher sei, so müsse er doch auch deutsch sprechen können. Kurz und gut, Helene Georgiewna hätte nach einigen Zögern gesagt, es würde ihr nicht schwerfallen, ihrem Sohn dann und wann behilflich zu sein, vorausgesetzt, dass er wirklich seine Muttersprache erlernen und ein fleißiger „Schüler“ sein wolle…
Einen durchaus glaubhaften Vorwand hatte sich Frau Linda da ausgeklügelt, und dabei konnte schon allein diese vorgebrachte Absicht, wenn sie in Erfüllung ginge, von Nutzen sein. Doch nicht das war ihr eigentliches Ziel gewesen. Im Stillen hatte sie Helene ins Herz geschlossen und sie für ihren Bernhard als Frau auserwählt. Vielleicht war das unüberlegt, vielleicht zu voreilig. Und auf jeden Fall war einfach nicht statthaft, so zu handeln. Aber was tut eine Mutter nicht alles, damit ihre Kinder glücklich werden sollen. Und dieses Mal hatte sich, wie wir ja schon wissen, das Mutterherz zu allgemeiner Zufriedenheit nicht geirrt…
Draußen war es am hellichten Tag plötzlich fast dunkel gewoden. Am Horizont ballten sich schwarze Wolken zusammen. Ein heftiger Sturmwind begann zu toben und peitschte die ohnehin krankhaften Bäumchen und Sträucher auf den Straßen hin und her. Und ganz Südost, ein neuer Stadtteil von Karaganda, hatte sich in undurchsichtige Staubwolken gehüllt. Ein drohendes Gewitter war im Anzug. Ob es erfrischenden Regen bringen würde?
„Mama“, sagte Helene, „vielleicht kehren wir lieber um und gehen nach Hause. Diese japanische Seide kann uns gestohlen bleiben.“ Frau Linda aber nahm Helene am Arm, zog sie mit sich und suchte mit ihr Unterschlupf in der geräumigen Halle des Postamtes, wo sie gerade vorbeigehen wollten; und in einer Ecke, wo sie niemand stören könnte, sagte sie: „Helene, liebes Kind, wenn es, ach, wenn es um Seide ginge! Da hängt etwas Gefährlichres als dieser Staub in der Luft. Ich habe soeben einen Brief von deiner Mutter gelesen. Er war ja auch an mich gerichtet, ich könne ihn auch als erste lesen. Er liegt in meiner Schublade.“
Und Frau Linda atmete tief auf und sprach im Flüsterton weiter: „Helene, liebes Kind, du musst dich fassen. Ich fühle es als meine Pflicht, dich vorzubereiten, und du musst dann alles mit Bernhard besprechen. Allem Anschein nach müsst ihr… müssen wir noch einen Kampf ausfechten.“
Und sie gab die wichtigsten Stellen des Briefes von Irina Petrowna wieder, der eine Woche unterwegs gewesen war.
Vor ein paar Tagen sei kurz hintereinander Irenchens Vater, dieser Gelehrte, zweimal bei ihnen zu Hause aus dem langjährigen Dunkel aufgetaucht. Nach seinen Worten sei er an einem zentralen Forschungsinstitut angestellt. Er lebe mit einer anderen Frau, die Doktor der Wissenschaften sei. Sie hätten alles, was man sich nur wünschen könnte, bloß keine Kinder. Und er wolle seine Tochter sehen, er habe für sie teuere Geschenke mitgebracht. Und er könnte jetzt selbstverständlich Alimente zahlen, aber er wolle sich endlich scheiden lassen und habe schon einen erfahrenen Anwalt gefunden, der es für durchaus möglich halte, er, Gerhard Müller, ein angesehener Wissenschaftler, könnte vor Gericht den Anspruch erheben, ihm bei der Scheidung seine Tochter zuzusprechen. Und es wäre für ihn potentiell also erreichbar, diesen Prozess zu gewinnen. Aber vielleicht, so meine er, könne man diesen Aspekt auch ganz fair regeln, denn wozu brauche Helene eine Tochter ohne Vater. Und darüber hinaus hätte das Kind bei ihnen die besten Möglichkeiten und Aussichten, einmal eine hochgeschätzte Frau, eine prominente Persönlichkeit zu werden und könne sowohl jetzt als auch künftig ein Leben in Wohlstand führen…
Draußen hatte sich unterdessen der Sturmwind gelegt, und es ging ein warmer und erfrischender Regen nieder. Und eine Großmutter und eine Mutter, beide von verzweifelten Gedanken gequält, gingen langsam und schweigend nach Hause.
1988
